Weihnachtsgeschichten am Kamin 04
als unsere schöne alte Stadt Osnabrück im Feuersturm endgültig in Schutt und Asche versank. So saßen wir nun auf den Trümmern unserer Habe, aber wir hatten den Krieg körperlich unbeschadet überstanden, und wir hatten ein Dach über dem Kopf, d. h. wir hatten sogar zwei Dächer über demselben. Wir waren nämlich stolze Besitzer von zwei Räumen. Einer wurde zum Kochen und Wohnen benutzt, der andere zum Schlafen. Nur war ein Haken bei der Sache: Zwischen diesen beiden Zimmern lagen zwei Straßenzüge. So waren wir jeden Abend kurz vor Beginn der Sperrstunde undjeden Morgen vor Tau und Tag auf Wanderschaft.
Nun kam also Weihnachten. Und es geschah ein Wunder: Unsere Schlafzimmervermieter verreisten und boten uns an, am Heiligen Abend ihre Küche zu benutzen, damit uns in der Heiligen Nacht der Weg durch die eisige Kälte erspart bliebe. Und sie hatten uns noch einen vollgefüllten Kohlenträger hingestellt.
So hatten meine Eltern am frühen Nachmittag in der Küche — die uns nicht gehörte — das Weihnachtsfest vorbereitet. Im Herd brannte ein fröhliches Feuer, es gab einen Tannenzweig, an dem selbstgebastelte Strohsterne hingen, und es gab ein paar selbstgegossene echte Bienenwachskerzen! Wir hatten uns in der Apotheke (ich bin Apothekerin) das letzte vorhandene Vorkriegsbienenwachs brüderlich geteilt, um das erste Friedensweihnachten gebührend zu begehen. Aus dem Radio, das uns auch nicht gehörte, klangen Weihnachtslieder, und so ganz allmählich wurde uns doch festlich zumute. Nun fehlte nur noch mein jüngerer Bruder. Dieser, heute als Oberstaatsanwalt in Amt und Würden, war seit Kriegsende bis zum Wiederbeginn eines geregelten Schulbetriebes in der Landwirtschaft tätig und hatte nun zwei Tage Urlaub bekommen. Endlich ertönte die Türklingel. Mutti entzündete schnell die Kerzen, Papa ging die Tür öffnen, und dann hörten wir seine Stimme im Treppenhaus: Junge, du meine Güte, was ist denn das. Warte, ich helfe dir. Irgendein schwerer Gegenstand wurde die letzten Treppenstufen hochgehievt und stand dann mit einem «Fröhliche Weihnachten» von meinem Bruder mitten in der Küche.
Ja, da stand sie nun, eine Milchkanne, und zwar eine von der Größe, in der die Bauern ihre Milch zur Molkerei transportieren. Mutti versuchte den Deckel zu lüften, der aber heftig Widerstand leistete, so als ob er klebte. Aber schließlich war Mutti doch stärker, und dann sahen wir den Inhalt: eine dicke, braune, zähflüssige, unheimlich süße Masse, die unsere Mutter, die aus Schlesien stammte, vornehm als «Sirup» bezeichnete, während wir anderen auf gut Osnabrückisch «Rübenkraut» riefen. Eine ganze Kanne voll. — Ein Schatz. — Die erste Probe entnahmen wir, als wir uns zur Feier des Tages ein paar Bratäpfel machten und diese an Stelle von Zimtzucker mit Sirup süßten. Es wurde noch ein schöner Abend, und als die Kerzen langsam verlöschten, da spiegelte sich ihr letzter Schein in der blanken Milchkanne.
Am andern Morgen schleppten wir noch im Dunkeln mit vereinten Kräften unser Weihnachtsgeschenk in unsere Wohnküche. Im Herd wurde Feuer gemacht, und auf der heißen Herdplatte wurden Maisbrotschnitten geröstet und noch warm mit Rübenkraut gegessen. Köstlich! Dann ging es ans Umfullen, da mein Bruder die Kanne ja wieder mitnehmen mußte. Alle nur erdenklichen Gefäße wurden herbeigeschafft, und während die Männer gossen, standen Mutti und ich mit Löffeln bewaffnet daneben, um den Sirupfluß rechtzeitig zu stoppen. Trotzdem ging natürlich einiges daneben, und dann wurde geleckt. Weihnachten wurde immer süßer! Der Rübenkrautsegen nahm kein Ende, und als die Kanne zum Auslaufen auf den Kopf gestellt wurde, floß immer noch Rübensaft heraus. Mutti überlegte, was man alles mit Sirup anfangen könnte, und backte — trotz Weihnachten — gleich einen Rübenkrautkuchen. Von diesem eine Scheibe mit Ersatzmarmelade bestrichen und die Augen zugemacht, und man meinte, in einen dieser köstlichen Dominosteine zu beißen, die bei uns früher auf keinem Bunten Teller fehlten.
Und dann brach ab Weihnachten 1945 bei uns das Rübenkrautzeitalter an. Ein Glas nahm ich mit in die Apotheke, um an Ort und Stelle mein Brot damit zu bestreichen. Erst profitierten auch meine Mitarbeiterinnen davon, aber deren Interesse nahm dann auch schnell ab. Immer nur Süßes! Bis dann eines Tages mein Sirup doch noch etwas Tolles bewirkte. Ein älterer Herr, der beim Augenarzt gewesen war und in der Apotheke auf seine
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