Weihnachtsgeschichten am Kamin 04
junge Familie aufregend und voller Stress. Alle persönlichen Dinge mußten geordnet werden, die Wohnung mußte aufgelöst werden, und immer stand die Ungewißheit noch im Raum, an welchem Tag sie nun wirklich fahren durften. Gestern dann kam die erlösende Nachricht, und zwei Stunden vor der Abfahrt durfte sich die Familie die Ausreisepapiere abholen und die Fahrkarten lösen. Und nun standen sie hier auf dem kalten, zugigen Bahnhof. Nur noch wenige Minuten blieben, um mit den Freunden letzte Worte zu tauschen. Eigentlich war alles längst gesagt, es waren nur noch Minuten voller innerer Spannung. Sie hatten sich in den letzten Tagen von allen verabschiedet. Von den Nachbarn, Bekannten und Verwandten, und von den Freunden. Anstrengend war das gewesen, man war innerlich irgendwie zerrissen. Auf der einen Seite war da die Erleichterung und die Freude, nun endlich fahren zu dürfen, auf der anderen Seite die Gewißheit, die altvertraute Umgebung und die liebgewonnenen Freunde zurücklassen zu müssen. Während die ganze Umgebung ihre Stuben schmückte und die letzten Weihnachtsvorbereitungen traf, hatte die junge Familie ihre Wohnung, ihr Zuhause, ausgeräumt, die Möbel verschenkt und die Koffer gepackt. Vorweihnachtlich ging es dabei bestimmt nicht zu, doch da war bei allem eine ganz tiefe innere Hoffnung, Freude und Spannung auf den Neubeginn «drüben» dabei. Den Kindern machte das alles nichts aus. Für sie war es das große Abenteuer, einpacken, dorthin fahren, wo man sonst nicht hindurfte. Als der Zug einfuhr, ging alles sehr schnell, und das war gut so. Bis zur Grenze wurde nicht viel gesprochen, selbst die Kinder spürten die Spannung der Eltern und verhielten sich ziemlich ruhig. Die Grenzabfertigung verlief schnell. Als der Zug bereits in Richtung Bebra fuhr, öffnete der Mann langsam die Abteil tür und stellte sich auf den Gang ans Fenster, diejunge Frau stellte sich daneben und schob ihre Hand in seine Hand, und so fuhren sie in die Nacht hinein. Die Kinder entdeckten als erstes die Lichter, und alle wußten, daß für sie nun das Leben im anderen Teil Deutschlands begonnen hatte. Der Zug ratterte durch eine Ortschaft, vorbei an kleinen Häusern mit lichtgeschmückten Vorgärtentannen und einer hell angestrahlten, auf einem Hügel stehenden Kirche. Auch hier also, war bereits alles weihnachtlich geschmückt. Diejunge Frau mußte an den Beginn des Weihnachtsevangeliums denken, das in wenigen Tagen von so vielen Menschen gehört werden würde, und einige Sätze daraus kamen ihr in den Sinn.
«Es begab sich aber zu der Zeit...
und
da machte sich auch Joseph auf... mit Maria
und, sie legten das Kind in eine Krippe, denn in der Herberge war kein Platz für sie...»
Wie wird es uns hier ergehen, dachte sie, und wird es einen «Platz» für uns geben? Wie werden uns die Menschen hier aufnehmen? Lieber Gott, laß uns hier wieder eine Heimat finden! Doch dann verjagte die Freude und die Zuversicht und die Hoffnung alle anderen Gedanken.
Sie waren angekommen und machten ihre Herzen und ihren Verstand weit auf für das nun Kommende.
Wilfried Schulz
Nur eine Kerze
Jeder muß seine eigenen Erfahrungen machen. Auch die schlechten. Viele Erlebnisse, die man als Kind noch nicht versteht, kriegen mit zunehmendem Alter ein anderes Gesicht. Manches klärt sich auf, man versteht und begreift es.
Andere Begebenheiten bleiben ganz tief haften, doch verstehen kann man sie nie. Es war Ende der dreißiger Jahre:
Ich war zehn und die Welt war für mich in Ordnung, zumal Weihnachten vor der Tür stand. Viele Dinge im täglichen Leben, die sich verändert hatten, sind mir erst viel später aufgefallen. Als Kind hat man dafür noch kein Gespür, da waren andere Dinge wichtiger.
Wir wohnten in einem kleinen Ort. Eine lange Straße, die notwendigsten Geschäfte — das war’s. Vater war Polizist, der einzige im Ort. Wir wohnten in einer Dienstwohnung. Unten im Haus hatte Vater ein Büro, angeschlossen daran war eine Arrestzelle, die war nie abgeschlossen, und es saß auch keiner ein — bis dahin. Vieles beginnt langsam, man merkt es kaum.
Bis zu diesem Zeitpunkt war Vater der einzige Mann im Ort, der eine Uniform trug. Meistens nicht einmal vorschriftsmäßig, wozu auch, es störte ja niemanden. Man achtete ihn auch so, ob mit oder ohne Uniform. Seit geraumer Zeit war das anders, da trafen sich einige Männer aus dem Ort und der Umgebung im Hinterzimmer des Gasthauses. Auch sie trugen Uniform — braune.
Damit kam
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