Weihnachtszauber 02
sonntäglichen Gottesdienst einen bewundernden Blick zuwarf.
Trotz der Einsamkeit, die Amelia in den Monaten seit Miss Littles Abreise gelegentlich verspürt hatte, fand sie es doch herrlich, von den Verboten, die ihrem Tun und ihren Gedanken auferlegt waren, endlich erlöst zu sein.
An der Gewittermiene ihres Vormunds konnte sie indes ablesen, dass ihn Miss Littles Abwesenheit keineswegs so erfreute wie sie.
„Wann ist Miss Little abgereist?“
„Vor einigen Wochen“, sagte Amelia gleichgültig. „Gewiss sind Sie nach der langen Reise durchgefroren und hungrig, Mylord. Darf ich in die Küche gehen und Ihnen eine kleine Erfrisch...“
„Vor wie vielen Wochen?“
„Ich bin sicher, es ist noch etwas Eintopf und frischgebackenes Brot von meinem Dinner übrig.“
„Vor wie vielen Wochen ist sie abgereist, Amelia?“
Sie schlug die von langen Wimpern umrahmten Lider nieder und meinte in sanftem, vorwurfsvollen Ton: „Es besteht kein Grund, die Stimme zu erheben, Mylord.“
Gray vermutete, dass sich sein junges Mündel vorsätzlich süß, unschuldig und unerfahren zu geben versuchte. Doch er würde sich nicht einen Augenblick von ihr täuschen lassen. Zugegeben, er hatte sie für eine andere gehalten, und sie zu umarmen war möglicherweise ein Fehler gewesen. Es war ihm jedoch nicht entgangen, dass sie ganz zweifellos Gefallen an dieser Umarmung gefunden hatte.
„Wenn Sie meine Frage beantworten würden, müsste ich auch nicht die Stimme erheben“, erwiderte er in zuckersüßem Ton. „Und wenn Sie mir nach Miss Littles Abreise geschrieben hätten, wäre die Situation hier vielleicht nicht gar so katastrophal!“, fuhr er grimmig fort.
Ihre Augen weiteten sich vor Empörung. „Wollen Sie mir etwa die Schuld geben, dass die Dienstboten gegangen sind?“
„Nein“, antwortete Gray. „Nur dafür, dass Sie mich nicht darüber informiert haben.“
Natürlich war ihm vollkommen klar, wer die Lage in Steadley Manor zu verantworten hatte. Er wusste jetzt auch, dass er Lord Stanford zu großem Dank verpflichtet war, weil dieser ihn über die Zustände auf dem Anwesen in Kenntnis gesetzt hatte.
Sobald sich die Gelegenheit ergab, wollte er ihn aufsuchen, um Abbitte zu leisten ...
„Ich habe nicht ... Oh, Mylord, auf Ihrem Mantel ist Blut!“, rief Amelia erschrocken und schlug eine Hand vor den Mund. Entsetzen spiegelte sich in ihren weit aufgerissenen, ungläubig blickenden Augen, während sie auf seinen linken Arm starrte.
Gelassen betrachtete Gray den blutverschmierten Ärmel. „Das passiert gewöhnlich, wenn man angeschossen wird, Amelia.“
Ihre alabasterweißen Wangen wurden noch blasser. Jegliche Farbe wich aus ihrem schönen Gesicht. „Ich ... Sie ... Behaupten Sie etwa, ich ... ich habe Sie getroffen?“
Sie keuchte auf vor Entsetzen.
Gray sah mit bestürzter Miene, wie sie sich blind nach Halt suchend am Geländer abstützte. „Sie haben nicht mein Herz getroffen, wie Sie mir androhten, aber ich habe vermutlich eine Fleischwunde am linken Arm davongetragen, die wohl verarztet werden muss.“ Stirnrunzelnd bemerkte er, dass sie leicht taumelte. „Ich hoffe, Sie werden jetzt nicht ohnmächtig, Amelia?“
Amelia befürchtete, genau das werde passieren. Aber ...
Die abschätzige Miene, mit der er sie bedachte, genügte, um sie wieder zur Besinnung zu bringen.
Rasch zwickte sie sich in den Arm, um sich zu vergewissern, dass sie nicht träumte und Lord Gideon Grayson tatsächlich endlich nach Steadley Manor gekommen war.
So befreit sie sich auch nach Miss Littles Abreise gefühlt hatte, in letzter Zeit verspürte sie immer öfter Langeweile, und sie war es allmählich leid, ihre Zeit allein in Bedfordshire zu verbringen. Daher wollte sie ganz gewiss nicht seinen Unmut erregen, indem sie sich wie ein dummes Huhn aufführte und vor seinen Augen in Ohnmacht sank. Es war schon schlimm genug, dass sie ihn nach all den Jahren des Wartens bei ihrer ersten Begegnung angeschossen hatte.
„Ganz gewiss nicht, Mylord“, sagte sie brüsk. „Ich war nur einen Moment aus der Fassung geraten, das ist alles. Wenn wir in mein Schlafgemach gehen ...“
„Zu welchem Zweck, wenn ich fragen darf?“ Pikiert hob er die Augenbrauen.
Sie erwiderte seinen Blick ungerührt. „Weil dort ein Feuer im Kamin brennt, an dem Sie sich wärmen können, und um sicherzustellen, dass Sie außer dem Blutverlust nicht auch noch einen Schock erleiden.“
Der einzige Schock, den Gray erlitten hatte, war darauf
Weitere Kostenlose Bücher