Weil deine Augen ihn nicht sehen
Stanford, das verspreche ich Ihnen.«
54
»JETZT HÖR MIR MAL gut zu«, sagte Angie am Samstagmorgen um neun Uhr zu Kathy. »Mit all deinem Gehuste und Geweine hab ich die halbe Nacht wach gelegen, und langsam hab ich die Schnauze gestrichen voll. Ich kann nicht den ganzen Tag in diesem Zimmer eingesperrt bleiben, und ich kann dich nicht zum Schweigen bringen, indem ich dir den Mund zuklebe, weil du mit deiner Erkältung dann nicht mehr atmen könntest. Deshalb nehme ich dich mit. Ich hab dir gestern ein paar Sachen zum Anziehen gekauft, als ich weg war, aber die Schuhe passen nicht. Sie sind zu klein. Deshalb fahren wir jetzt noch mal zu dem Laden, und ich werde reingehen und sie gegen größere umtauschen. Du wirst im Auto auf dem Boden liegen bleiben und nicht den geringsten Mucks machen. Hast du das kapiert?«
Kathy nickte. Angie hatte ihr ein Polohemd, eine Cord-Latzhose und eine Jacke mit Kapuze angezogen. Ihre kurzen dunklen Haare hingen ihr schlaff in die Stirn und auf die Backen, sie waren noch feucht von der Dusche, unter die Angie sie gestellt hatte. Von dem randvollen Esslöffel Hustensaft, den ihr Angie eingeflößt hatte, wurde sie schon wieder schläfrig. Sie hätte so gerne mit Kelly gesprochen, aber das war verboten. Deswegen hatte Angie sie gestern so fest gekniffen.
»Mommy, Daddy«, flüsterte sie in Gedanken. »Ich will nach Hause. Ich will nach Hause.« Sie wollte sich Mühe geben, nicht mehr zu weinen. Sie hatte auch gar nicht weinen wollen, aber als sie am Einschlafen war und ihre Hand nach Kellys Hand ausgestreckt hatte und Kelly nicht da war, und als ihr dann wieder eingefallen war, dass sie nicht in ihrem eigenen Bett lag und dass Mommy nicht noch einmal schauen würde, ob sie auch richtig zugedeckt seien, da konnte sie nicht anders. Da hatte sie einfach weinen müssen.
Die Schuhe, die Angie für sie gekauft hatte, waren zu klein. Sie drückten an den Zehen und waren überhaupt nicht wie ihre Sneaker mit den rosa Schnürsenkeln oder ihre Lackschuhe, die sie zu ihrem Geburtstagskleid getragen hatte. Wenn sie ganz lieb sein und nicht mehr weinen würde, wenn sie auch noch versuchen würde, nicht zu husten, und keine Zwillingssprache mehr sprechen würde – vielleicht würde dann Mommy kommen und sie wieder nach Hause mitnehmen. Monas richtiger Name war Angie. Manchmal hatte Harry sie so genannt. Außerdem hieß er gar nicht Harry, sondern Clint. So hatte Angie ihn manchmal genannt.
Ich möchte nach Hause, dachte sie, und Tränen stiegen ihr in die Augen.
»Fang jetzt nicht wieder an zu weinen«, sagte Angie mit warnender Stimme. Sie öffnete die Tür und zog Kathy an der Hand zum Parkplatz. Es regnete in Strömen, und Angie setzte den großen Koffer ab, den sie in der einen Hand trug, und zog Kathy die Kapuze über den Kopf. »Nicht, dass deine Erkältung noch schlimmer wird«, sagte sie. »Du bist schon krank genug.«
Angie hob den Koffer in den Transporter, dann befahl sie Kathy, sich auf das Kissen auf den Boden zu legen, und breitete einer Decke über sie. »Das ist auch noch so was. Ich muss dir einen Kindersitz besorgen.« Sie seufzte. »O Mann, du machst einem das Leben wirklich schwer.«
Sie schmiss die hintere Wagentür zu, kletterte hinter das Steuer und ließ den Motor an. »Auf der anderen Seite wollte ich immer ein Kind haben«, sagte sie mehr zu sich selbst als zu Kathy. »Das hat mich schon früher einmal in Schwierigkeiten gebracht. Aber ich glaube, der kleine Junge hat mich wirklich gern gehabt und wollte bei mir bleiben. Und als seine Mutter ihn abholen wollte, bin ich richtig ausgerastet. Billy hat er geheißen. Er war richtig süß, und ihn konnte ich wenigstens zum Lachen bringen – nicht wie du, du bist ja ständig nur am Heulen. Mein Gott!«
Kathy hatte verstanden, dass Angie sie nicht mehr mochte. Sie rollte sich auf dem Boden ein und steckte den Daumen in den Mund. Das hatte sie immer getan, als sie noch ein Baby war, aber irgendwann hatte sie damit aufgehört. Jetzt konnte sie nicht anders – das machte es leichter, nicht zu weinen. Als Angie aus dem Parkplatz des Motels fuhr, sagte sie: »Falls es dich interessiert, Engelchen, du bist hier in Cape Cod. Diese Straße hier führt zum Kai, von dem die Fähren nach Martha’s Vineyard und Nantucket abgehen. Ich war einmal auf Martha’s Vineyard, mit dem Kerl, der mich hierher mitgenommen hat. Ich hab ihn irgendwie gemocht, aber wir haben uns danach nie mehr gesehen. O Mann, ich wünschte, ich könnte
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