Weil du mich siehst
das Leben nahm … sie hatte gelernt, dass Selbstmörder in die Hölle kamen, würde sie dann weiterhin von ihnen getrennt sein, und diesmal für immer? Konnte sie das riskieren?
Doch die zwei Jahre ohne sie waren doch hier auf Erden bereits die Hölle. Was könnte denn noch kommen, das schlimmer wäre als DAS HIER?
Allein Damian war, was sie hier hielt. Sie konnte ihm das nicht antun. Sie konnte nicht auch noch von ihm gehen und ihn mit diesem Gefühl der Leere zurücklassen, das sie ununterbrochen fühlte. Es war schrecklich genug, dass er seinen Vater verloren hatte. Wenn sie jetzt auch noch ging, und das auch noch beabsichtigt, was würde er dann für den Rest seines Lebens fühlen? Dass er es nicht wert gewesen war, für ihn weiterzuleben?
Damian. Süßer kleiner Damian. Ich werde durchhalten, nur für dich. Du wirst sehen, eines Tages werden wir zusammen sein, das verspreche ich dir.
Berührungen
Die ganze Zeit musste er an sie denken und fragte sich, ob es ihr genauso erging.
War er auch das Erste, was ihr in den Kopf kam, wenn sie morgens aufwachte? War er das Letzte, das sie sich vorstellte, bevor sie abends ihre Augen schloss? Hatte sie auch jedes Hungergefühl verloren, kribbelte es ihr am ganzen Körper, wenn sie nur an ihn dachte?
Finn hatte noch nie so gefühlt und wusste nicht, wie er mit diesen neuen Gefühlen umgehen sollte. Seit Barnes Tod hatte er sich immer nur schlecht gefühlt, und jetzt waren da plötzlich Schmetterlinge in seinem Bauch, die da umher flatterten, die ihn in andere Sphären aufsteigen ließen.
Paula hatte es auch gefühlt, als sie sich berührten, das hatte sie ihm gesagt. Doch was genau hatte sie eigentlich gefühlt? Die gleiche Wärme wie auch er, die gleiche Geborgenheit, in die er sich am liebsten hätte fallen lassen wie in ein flauschiges Kissen, das ihn auffangen würde, ohne Angst, verletzt zu werden?
Er war sich bewusst, dass sie ihn nicht einmal sehen konnte, nicht wusste, wie er aussah, nichts von den Grübchen in seinen Wangen, nichts von den dunklen Augenringen wusste oder von den Locken, die ihm in die Stirn fielen, weil er sie schon längst hätte schneiden lassen müssen.
Machte der Altersunterschied ihr etwas aus oder die Tatsache, dass er nicht sprechen konnte? Er hatte hin und her überlegt, um eine Möglichkeit zu finden, wie sie miteinander kommunizieren könnten – schließlich konnte sie seine Schrift oder seine Zeichen nicht sehen. Dann war er auf einen Gedanken gekommen. Er hoffte, es würde dazu kommen, ihn mit ihr auszuprobieren – wenn sie ihn in ihre Nähe ließ.
Ganz aufgeregt saß er auf einem der Stühle, die einen Kreis bildeten, und sah erwartungsvoll zur Tür hin. Dann trat sie ein, von ihrem Fahrer geleitet. Sie setzte sich ihm gegenüber, wo er sie am besten im Blick hatte, und faltete die zierlichen Hände übereinander.
♥
Ob er wohl da war? Den ganzen Tag lang hatte sie diese Vorfreude, diese Aufregung eines verliebten Teenagers vor dem Date mit seinem Schwarm, verfolgt. So etwas hatte sie seit Ewigkeiten nicht empfunden, hatte gar nicht gewusst, dass es noch in ihr steckte. Bei all der Aufregung hatte sie sogar die Enttäuschung des vergangenen Samstags fast vergessen. Verrückt. Das war doch verrückt. Was war nur mit ihr los?
Als sie von Frank, dem Fahrer, hineingeführt wurde, fragte sie sich, ob Finn wohl gekommen war. Wenn ja, wo er wohl saß. Und ob er heute wieder ihre Hand halten würde.
Sie versuchte, genau hinzuhören. Seit sie ihr Augenlicht verloren hatte, war ihr Gehörsinn viel intensiver geworden, sie hörte Laute, auf die sie in ihrem früheren Leben nicht geachtet hatte, nahm Dinge wahr, von denen sie nicht einmal gewusst hatte, dass sie existierten.
So hörte sie die Wellensittiche im Gebäude nebenan, den tropfenden Wasserhahn in der Wohnung unter ihr und das leise Schnarchen der alten Dame, die neben ihr wohnte. Sie hörte auch das Weinen von Babys, wahrscheinlich viel früher als alle anderen, schon wenn sie den Mund aufmachten und noch bevor der erste Ton herauskam. Doch Babyweinen wollte sie nicht hören, es brachte zu schmerzliche Erinnerungen zurück.
Sie setzte sich und spürte Blicke auf sich. Er war da. Er beobachtete sie. Intuitiv wusste sie, wo er saß und sah in seine Richtung. »Hallo«, sagte sie.
Natürlich bekam sie keine Antwort, doch sie war sich sicher, er hatte sie gehört.
Johannes begann, von seinem
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