Weil du mich siehst
den Unfall überlebt hatte. Warum hatte der liebe Gott sie nicht auch sterben lassen, dann könnte sie jetzt bei Max und Louisa sein statt hier in dieser Klinik, für immer verwundet, blind, allein. Zu der Zeit dachte sie noch nicht daran, dass sie alles war, was Damian noch hatte. Er litt mindestens genauso sehr wie sie. Der kleine Junge hatte an einem einzigen Tag alles verloren, jeden Menschen, den er liebte: seinen Vater, seine kleine Schwester, die er nur zweimal hatte sehen dürfen, und auf eine gewisse Weise auch seine Mutter.
Paula konnte nur ihren eigenen Schmerz sehen. In den kommenden Monaten versuchte sie mehrmals, sich das Leben zu nehmen. Sie riss sich die Schläuche aus den Armen, schnitt sich mit einem Buttermesser die Pulsadern auf, versuchte, sich mit ihrem eigenen Kissen zu ersticken. Daraufhin brachte man sie in eine geschlossene Anstalt, wo es nicht mehr so leicht war, sich etwas anzutun. Die Sicherheitsmaßnahmen waren andere. Trotzdem unternahm sie weitere elf Selbstmordversuche und verfluchte jedes Mal die ganze Welt, weil sie es wieder nicht geschafft hatte.
Obwohl sie immer ein gottesfürchtiger Mensch gewesen war, hatte sie ihren Glauben verloren. An einen Gott, der ihr Ehemann und Tochter nahm, wollte sie nicht glauben. An die Güte eines solchen Gottes konnte sie nicht mehr glauben. Andererseits, wenn sie nicht mehr an Gott und den Himmel glaubte … was für einen Ort sollte sie sich dann vorstellen, wo ihre Liebsten jetzt waren?
Der Glaube daran, dass es ihnen gut ging, wo auch immer sie jetzt waren, dass sie mit Liebe auf sie herabsahen, dass sie sie eines Tages wiedersehen würde, war alles, an das sie sich klammerte. Das war, was sie wieder auf die Beine brachte. Und Damian.
Nachdem Paula aufhörte, das Leben zu verfluchen und alle um sich herum zu hassen, nachdem sie begann, mit den Therapeuten zusammenzuarbeiten, nachdem sie wieder an eine Zukunft glaubte, wurde es besser. Die Dämonen ließen sie in Ruhe, die meiste Zeit zumindest. Sie schöpfte wieder Hoffnung, wenn auch nur langsam.
Nach einer Weile erlaubte man ihr, Besuch zu bekommen. Als sie Damian nach zehn Monaten zum ersten Mal wiedersah , war das der glücklichste Moment seit langem für sie. Sie sagte ihm, wie leid es ihr tue, nicht für ihn dagewesen zu sein. Sie sagte ihm, wie sehr sie ihn liebte und dass sie von nun an alles tun würde, um wieder mit ihm zusammen zu sein, um eine gute Mama zu sein.
Ein Jahr später wurde sie entlassen. Es hatte all ihre Kraft gekostet, viel Geduld und viel Zuspruch von den Ärzten und ihren Liebsten, bis sie soweit war, nach Hause zu gehen. Nur dass sie ja gar kein Zuhause mehr hatte. Ihre alte Wohnung war längst weitervermietet worden, ihre Möbel waren in einem Lagerhaus untergebracht. Ihre Habseligkeiten hatte Sandra gut verwahrt.
Sie zog in eine Wohnung ein, die ihr zur Rehabilitation gestellt wurde. Sie war bereits blindengerecht eingerichtet und mit allem ausgestattet, was sie benötigte. Sandra hatte sich zusammen mit der Sozialarbeiterin darum gekümmert. Wenn sie eines Tages soweit sein sollte, wieder mit Damian zusammenzuwohnen, würde sie eine größere Wohnung bekommen, mit einem eigenen Zimmer für Damian.
Doch niemand verschloss die Augen vor der Tatsache, dass es sehr lange dauern könnte, bis es soweit war, wenn es überhaupt jemals soweit kommen würde. Denn das Wichtigste war, dass Paula erst einmal lernte, mit sich selbst zu leben, bevor sie mit Damian leben konnte.
Was war nur aus ihrem Leben geworden? Vor nicht allzu langer Zeit war sie noch so glücklich gewesen, war eine fröhliche Mutter und Ehefrau gewesen mit Plänen für die Zukunft, voller Energie und Zuversicht. Jetzt war sie ein Häufchen Elend, das jeden Tag aufs Neue versuchte, die Dämonen von sich zu halten. An manchen Tagen war es gar nicht so schwer, an anderen hätte sie ihnen nur allzu gern Eintritt gewährt und sich ihnen übergeben mit all ihrem Schmerz und ihrer Verzweiflung.
Wie schön und erleichternd wäre es, einfach aufzugeben. Den Kampf hinter sich zu lassen. Sich fallen zu lassen. Von dieser Welt zu gehen und in die nächste überzutreten, in der Max und Louisa schon sehnsüchtig auf sie warteten.
Doch würde sie wirklich in ihre Welt kommen? Sie waren gewaltsam von dieser Welt gegangen, unfreiwillig und viel zu früh. Sie waren ganz sicher an einem besseren Ort. Aber wenn es wirklich Himmel und Hölle gab, und sie sich absichtlich
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