Weil ich Layken liebe
Staat Michigan nicht, ich nicht und auch keiner von den Menschen, die deine Vergangenheit mitbestimmt haben …
Joel ruft laut die Namen, die auf den rosa Ballons stehen, und lässt sie dann in den Himmel steigen – einen nach dem anderen. Eddie laufen die Tränen übers Gesicht, während sie ihnen nachblickt, bis sie langsam von der Dunkelheit verschluckt werden. Nachdem Joel die Namen aller neunundzwanzig Geschwister und dreizehn Eltern genannt und die dazugehörigen Ballons losgelassen hat, hält er nur noch einen einzigen rosa Ballon in der Hand, auf dem in großen schwarzen Buchstaben »Dad« steht.
Gavin faltet den Brief zusammen, steckt ihn weg und tritt einen Schritt zurück.
Joel geht auf Eddie zu. »Ich hoffe, dass du dieses Geburtstagsgeschenk von mir annimmst«, sagt er und reicht ihr den Ballon. »Ich würde gern dein Dad sein, Eddie. Ich möchte zu dir gehören, so lange du es willst.«
Eddie stößt einen Laut aus, der halb Schluchzen, halb Lachen ist, öffnet die Arme und drückt ihn an sich.
Wir anderen gehen wieder ins Restaurant zurück, um den beiden Zeit für sich zu geben.
»Oh mein Gott. Ich brauche eine Serviette«, schniefe ich.
Ich will mir gerade eine aus dem Spender auf der Theke ziehen, als ich sehe, dass Nick und Gavin ebenfalls Tränen in den Augen haben – also nehme ich sicherheitshalber gleich noch ein paar mehr mit, bevor wir an unseren Tisch zurückkehren.
17.
If I get murdered in the city
don’t go revengin’ in my name.
One person dead from such is plenty
No need to go get locked away.
– THE AVETT BROTHERS, »MURDER IN THE CITY«
Wenn ich so auf die letzten Monate zurückblicke, habe ich das Gefühl, dass ich die fünf Phasen der Trauer in meinem Leben gleich auf mehreren Ebenen durchlaufen habe.
Schon vor unserem Umzug nach Michigan habe ich gelernt, den Tod meines Vaters zu akzeptieren. Und jetzt bin ich so weit zu akzeptieren, dass auch meine Mutter sterben wird, wobei mir natürlich bewusst ist, dass die Trauer mich noch einmal mit voller Wucht trifft, wenn sie irgendwann – was hoffentlich nicht so bald sein wird – tatsächlich stirbt. Allerdings könnte ich mir vorstellen, dass ich die einzelnen Phasen vielleicht ein kleines bisschen schneller durchlaufe als nach Dads Tod, weil ich diesmal vorbereitet bin.
Auch Texas habe ich endgültig hinter mir gelassen undmich damit abgefunden, dass wir jetzt in Michigan leben. In dem Song Weight of Lies von den Avett Brothers, den ich an dem Tag bei Will so oft gehört habe, heißt es:
»The weight of lies will bring you down, follow you to every town ’cause nothing happens here that doesn’t happen there.«
Während ich jetzt durch die Dunkelheit nach Detroit zum Club N9NE fahre, wo wir Eddies Geburtstag weiterfeiern, höre ich wieder die CD und erkenne mit einem Mal, dass sich das, was in der Songzeile über die Last der Lügen gesagt wird, deren Gewicht einen herunterzieht, auch auf andere Dinge im Leben übertragen lässt.
Man kann an einen anderen Ort flüchten, in eine andere Stadt, sogar in einen anderen Bundesstaat, aber das, wovor man flieht – ganz egal, was es ist –, wird einen immer begleiten. Und zwar so lange, bis man einen Weg findet, damit umzugehen.
Ich weiß, dass nichts von dem, was mich belastet, leichter zu ertragen wäre, wenn ich nach Texas zurückziehen würde, und deswegen ist es okay, hierzubleiben, in Ypsilanti, Michigan.
Sogar dass Will und ich nicht zusammen sein können, habe ich gelernt zu akzeptieren, auch wenn es unendlich schmerzhaft war. Ich verstehe und unterstütze seine Entscheidung vollkommen und werfe ihm nichts vor. Natürlich träume ich in manchen Momenten davon, dass er mich in seine Arme reißt, mir seine Liebe gesteht und sagt, alles andere wäre ihm egal, wenn er nur mit mir zusammen sein könnte. Aber inder Realität würde das bedeuten, dass er für mich leichtfertig das Schicksal seines kleinen Bruders aufs Spiel setzt. Und mit einem solchen Menschen möchte ich gar nicht zusammen sein. Nein, ich mache ihm keine Vorwürfe, sondern achte ihn nur umso mehr dafür, dass er seine Verantwortung ernst nimmt.
Es ist kurz nach acht, als ich auf den Parkplatz des Clubs einbiege. Heute ist anscheinend viel los – vorne stehen schon so viele Wagen, dass ich auf den Parkplatz hinter dem Gebäude ausweichen muss. Gavin und das Geburtstagskind sind noch nicht hier, weil er noch eine kleine Überraschung für sie vorbereitet hat, die er ihr unterwegs geben will. Als
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