Weil sie sich liebten (German Edition)
dass er nun nicht mit seiner
Klasse zusammen den Abschluss machen würde.
Mike blieb noch lange in seinem Büro sitzen, nachdem er die
Geständnisse im Safe verwahrt hatte. Zorn war in heißen Wellen in ihm
aufgestiegen, aber er spürte, dass da in seinem Inneren noch etwas viel größeres
war: panische Angst. J. Dot
war ihm herzlich gleichgültig. Je früher der Junge die Schule verließ, desto
besser war es. Rob jedoch war vor dem Zwischenfall dank seiner schulischen und
sportlichen Leistungen nur positiv aufgefallen. Seine bevorzugte Annahme an der
Brown-Universität hatte dem Ansehen der Schule gutgetan. Mike kannte Rob nicht
gut, aber das Wenige, was er über ihn wusste, fand er bewundernswert. Was
sollte der Junge tun, wenn er nun der Schule verwiesen und die
Brown-Universität ihre Zusage zurückziehen würde? Welch große Hoffnungen waren
da in einer Stunde gefährlicher Torheit zunichtegemacht worden. Und wofür?
Und Silas … Mike mochte kaum an ihn denken. Er wünschte so sehr,
Silas wäre nicht auf dem Band. Wenn nur die Person hinter der Kamera sein
Gesicht nicht gezeigt hätte. Aber Silas war da
gewesen. Er war schuldig. Er würde viel verlieren. Auch er würde der Schule
verwiesen werden. Seine Beziehung mit Noelle, immer vorausgesetzt sie hatte
jenen Samstagabend überlebt, würde zerstört sein. Und Mike konnte sich nicht
vorstellen, wie Silas weiter in einem Haus mit Anna und Owen leben sollte.
Wieder dachte er daran, dass er schnellstens Anna anrufen sollte.
Er drehte sich in seinem Schreibtischsessel herum und blickte zum
Fenster hinaus. Er dachte an die Jahre in Avery, an die vielen Schüler, die er
bis zu ihrem Abschluss begleitet hatte. Regelverstöße hatte es immer gegeben,
aber so etwas nie. Er dachte an Silas, Rob und J. Dot.
Er dachte an Anna, Meg und Owen. Mike hatte kein Geständnis niedergeschrieben,
aber er wusste, dass er schuldig war. Indirekt schuldig zwar, aber dennoch
schuldig.
Laura
A m Mittwochmorgen ging meine
Zimmergenossin früh aus dem Haus. Als sie wiederkam, war sie total von der
Rolle. Sie knallte die Tür zu unserem Zimmer zu, aber sie sagte nicht, dass ich
rausgehen solle. Ich war beim Lernen. Ganz ehrlich, manchmal glaube ich, sie
hat überhaupt nicht wahrgenommen, dass ich da war.
Als Erstes hat sie eine Freundin angerufen. Ich weiß nicht mehr viel
von dem Gespräch, weil sie das oft gemacht hat, ich meine, dass sie telefoniert
hat, obwohl ich im Zimmer war und ganz offensichtlich lernen wollte. Aber so
war sie eben. Ich glaube, ich habe erst aufgehorcht, als ich sie sagen hörte:
»Aber wie ist das mit dem Band überhaupt rausgekommen?« Zuerst dachte ich, sie
redet von Musik, aber sie hörte sich ziemlich verzweifelt an, und dann sagte
sie: »Oh Gott, meine Eltern bringen mich um!« Ich habe mich nach ihr umgedreht,
und ich schwör’s, sie hat mir direkt ins Gesicht geschaut, aber ich bin sicher,
sie hat mich überhaupt nicht gesehen. Sie hat nur die Person am anderen Ende
der Leitung vor sich gesehen oder vielleicht ihre stinksauren Eltern. Ich hatte
keine Ahnung, wovon sie redete, aber von dem Moment an habe ich zugehört. Ich
hörte sie sagen: »Was soll ich bloß tun?«, und dann: »Meinst du?«
Das Gespräch hat ungefähr zehn Minuten gedauert. Die meiste Zeit hat
sie nur der anderen Person zugehört. Hin und wieder hat sie mal gesagt: »Mein
Gott, glaubst du wirklich?« Und ich erinnere mich, dass sie gesagt hat: »Wie
heißt diese Droge überhaupt?«, und: »Wenn das nicht funktioniert, bin ich
erledigt.«
Ich hatte nicht die geringste Vorstellung von dem, was da lief. Als
sie ihr Handy zugemacht hatte, drehte ich mich um. »Alles in Ordnung?«, habe
ich sie gefragt, und sie hat wieder ihr Handy geöffnet und eine Nummer
eingegeben. »Was?«, hat sie gefragt. Ich fragte, ob etwas passiert sei. Aber da
hatte sich die Person, die sie angewählt hatte, schon gemeldet. Meine
Zimmergenossin fing sofort an zu weinen. Ich war total überrascht. Sie hat
wirklich geweint. Oder wenn es nur Schau war, war’s wirklich toll gespielt. Sie
kriegte kaum noch ein Wort raus vor lauter Schluchzen und hing so gekrümmt über
dem Handy, als ob sie fürchterliches Bauchweh hätte. »Mama«, sagte sie. Sie hat
das Wort nur so rausgewürgt. »Mama, ich bin vergewaltigt worden.«
Mich hat fast der Schlag getroffen. Bis dahin hatte ich keinen Ton
von einer Vergewaltigung gehört. Ich weiß, dass ich mit offenem Mund dagesessen
habe. Dann klopfte es draußen, und meine
Weitere Kostenlose Bücher