Weil sie sich liebten (German Edition)
wäre Owen jetzt schon zu Hause«, bemerkte sie.
»Ist er weggefahren?«
»Er ist unten in Bennington.«
»Geschäftlich?«
»Immer.«
Wenn man auf das Pfeifen des Teekessels wartete, dachte Mike, wurden
die Gespräche immer angespannt und mühsam. Es war, als müsste man, sozusagen,
auf den Anpfiff und das Ausschenken des Tees warten, bevor man sich locker
unterhalten konnte. Eine Zeit lang vermieden er und Anna es, einander
anzusehen, bis endlich – und es schien ewig zu dauern – der Kessel pfiff und
sie aus der Warteschleife befreite. Vielleicht, überlegte sich Mike, war das
der Grund, warum er dem Teetrinken nie viel hatte abgewinnen können.
Anna setzte sich ihm gegenüber und nahm die Folie von der Platte mit
den Zitronenschnitten. »Ich habe Ihre Blicke schon bemerkt«, sagte sie.
»Oh, so leicht durchschaubar bin ich?«
»Manchmal.« Sie lächelte.
»Danke. Aus irgendeinem Grund bin ich völlig ausgehungert.«
»Wenn ich diesen Ausdruck gebrauche, sagt Silas immer, ich sei nicht ausgehungert , sondern einfach hungrig.«
»Und da hat er natürlich recht«, sagte Mike. »Was hat er denn diesen
Sommer getrieben?«
»Er hat als Betreuer in einem Ferienlager oben bei Burlington
gearbeitet.«
»Er hat dort auch gewohnt?«
»Ja. Es hat ihm gutgetan. Auch einmal wegzukommen. Aber er hat seine
Freundin vermisst.«
»Noelle.«
»Ja.«
»Das ist doch schon mal eine gute Übung für später, wenn er zum
Studium weggeht«, meinte Mike. »Hat er schon darüber nachgedacht, wo er sich
bewerben will?«
»Er sagt, Middlebury, aber ich habe Angst, dass es eine Enttäuschung
für ihn wird.«
»Ich weiß nicht«, entgegnete Mike. »Dass er Basketball spielt, ist
auf jeden Fall eine Hilfe. Und Sie können sich darauf verlassen, dass ich ihm
eine gute Empfehlung schreibe. Ich schreibe nur drei oder vier pro Jahr, schon
deshalb haben sie ein gewisses Gewicht.«
»Danke«, sagte Anna herzlich.
»Manchmal werde ich um solche Schreiben gebeten und ich kann die
Bitte nicht abschlagen, weil die Eltern der Schule Geld gespendet haben oder
Freunde eines der Kuratoriumsmitglieder sind, aber ich hasse es, so etwas zu
schreiben. In diesem Fall jedoch wäre es mir ein Vergnügen.«
Anna lächelte wieder.
Mike nahm den Teebeutel aus der Tasse und suchte nach einem Platz,
wo er ihn ablegen konnte. Auch das war etwas, das ihn am Teetrinken störte.
Legte man den Teebeutel auf den Teller, weichte das Gebäck auf, und man konnte
ihn ja nicht gut einfach auf der Tischdecke deponieren. Legte man ihn in die
Untertasse, wurde die Tasse unten nass und tropfte bei jedem Schluck. »Welchen
Sport hat Silas im Herbst?«
»Fußball. Er hasst es.« Anna trank einen Schluck Tee. »Er lässt das
Schuljahr am Anfang immer ein bisschen arg ruhig angehen, aber dann gibt er
Gas. Man kann beinahe die Uhr danach stellen. Er scheint immer zwischen dem
fünften und dem zehnten Oktober die Kurve zu kriegen.«
»Wer ist sein Studienberater?«
»Richard Austin.«
Mike nahm sich vor, am nächsten Morgen mit Richard zu sprechen, um
zu hören, wie Silas’ Chancen standen, in Middlebury angenommen zu werden. Er
schob sich das letzte Stück Zitronenschnitte in den Mund und griff nach einer
Serviette. »Sie sehen hübsch aus«, sagte er.
Sie wurde rot. »Ich habe mich schon früher umgezogen, weil ich nicht
hetzen will. Ich habe immer gern Zeit für Silas, wenn er nach Hause kommt.«
Es schien ihm eine fadenscheinige Begründung zu sein – gingen sie und Owen denn abends so oft
aus? Für den Abend mit der Familie würde sie doch keine spezielle Kleidung
tragen? Aber er nickte nur. Ihm fiel plötzlich ein, dass er die Quinneys nie zu
sich eingeladen hatte, obwohl er sicher fünfmal oder öfter bei ihnen zum Essen
gewesen war, und er nahm sich vor, das bald nachzuholen. Meg würde das Essen
eben über sich ergehen lassen müssen. Mike hatte im Lauf der Jahre einige
Gerichte für solche Anlässe kochen gelernt.
»Woher kommen Sie eigentlich?«, fragte Anna plötzlich. »Mir ist
neulich aufgefallen, dass wir immer nur über Silas oder die Schule sprechen,
aber nie über Sie.«
Mike sprach aus gutem Grund nur selten über sich: Er war ein
Arbeiterkind aus kleinen Verhältnissen, dessen Vergangenheit auch ein paar
unschöne Stellen aufwies – gar nicht der passende Hintergrund für den Leiter
einer privaten höheren Schule. Auch wenn man mittlerweile im Jahr 2005
angelangt war, wurde oft noch automatisch angenommen, der Schulleiter komme,
wenn
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