Weine ruhig
Verdächtiges rührte sich. Auf dem Rückweg zum Krankenhaus beschloss Vater, dass sie, trotz der Gefahr, die nächsten Nächte in der Wohnung verbringen würden, so wie er es anfangs vorgeschlagen hatte.
In der Zwischenzeit lag ich zwischen frischen Laken in einem Bett und weigerte mich zu begreifen, was um mich herum vor sich ging. Ich fiel in einen erschöpften Schlaf. Als ich am nächsten Morgen aufwachte, stand Vater an meinem Bett und flüsterte mir zu, dass Mutter und die Mädchen sich im Park aufhielten und dass die Nacht ruhig verlaufen sei. Von unserem Nachbarn hatte er erfahren, dass die für den Transport bestimmten Juden bereits zum Bahnhof gebracht worden waren, von wo sie wahrscheinlich in wenigen Stunden Richtung Osten deportiert würden. Solange man bereit sei, mich im Krankenhaus zu behalten, sagte Vater, seien wir sicher. Natürlich hänge sehr viel von meiner Fähigkeit ab, so zu tun, als wäre ich krank. Vaters Worte verunsicherten und ängstigten mich. Ich fing zu weinen an. Vater versuchte, mich zu trösten. Er sagte, er sei sicher, dass ich meine Rolle gut spielen würde. Ich solle mich jetzt ausruhen.
Aber ich war ein Nervenbündel. Ständig warf ich den anderen Patientinnen misstrauische Blicke zu, und ich hatte schreckliche Angst vor dem, was passieren würde. Vater sagte mir, wie ich mich verhalten solle, wenn der Chefarzt zur Visite komme: Wenn er mich untersuchte, sollte ich sagen, dass ich große Schmerzen im rechten Unterbauch hätte, da, wo der Blinddarm war. Aber ich hatte keine Lust mehr, so zu tun, als wäre ich krank. Ich hatte Angst, dass ich nicht überzeugend genug lügen könnte, um einen erfahrenen Arzt zu täuschen, wo ich doch in Wirklichkeit keine Schmerzen hatte. Vater flehte mich an und sagte, es sei unsere einzige Chance, der Deportation zu entgehen, die jetzt so unmittelbar bevorstehe.
Der kritische Moment kam bald. Der Arzt betrat das Zimmer gemeinsam mit einer Krankenschwester, einer Nonne. Kritisch musterte ich ihn. Ich hatte auf einen sympathischen Menschen gehofft. Aber ich sah einen vierschrötigen Mann mit einer Glatze und rotem Gesicht. Er sah eher wie ein Fleischer aus, nicht wie ein Arzt. Er untersuchte zunächst meine Zimmergenossinnen, und als er zu mir kam, warf er einen Blick auf die Karte, die am Ende des Betts befestigt war, und sagte: »Nun, kleines Mädchen, hast du immer noch Schmerzen?«
Ich sah ihn an, aber ich bekam kein Wort heraus. Ich nickte nur.
Vater stand neben mir, er war angespannt und unruhig. Der Arzt stellte sich vor, obwohl sie sich bereits kennen gelernt hatten, weil ich mit seiner Einwilligung nach der Intervention des jüdischen Arztes stationär aufgenommen worden war.
»Ich bin Dr. Bullock, der Chefarzt der Chirurgie«, sagte er. »Mal sehen, was dem Mädchen fehlt.« Ruckartig zog er die Decke zurück, schob das weiße Krankenhaushemd hoch und fing an, meinen Bauch abzutasten. Jedes Mal, wenn er drückte, fragte er, ob es wehtue. Ich war mir nicht sicher, wo genau es wehtun sollte, deswegen antwortete ich meistens: »Ja, hier tut es weh, und da auch.«
Der Arzt sah mich an, als wollte er sagen: Warum machst du mir etwas vor? Dann deckte er mich wieder zu und sagte mit einem Augenzwinkern zu meinem Vater: »Gut, wir werden sehen, was wir tun können. So lange wird sie im Krankenhaus bleiben. Kommen Sie in mein Büro.«
Vaters Augen leuchteten auf. Ich sah einen neuen Hoffnungsschimmer darin. Mein Herz klopfte schneller, vor lauter Glück. Hieß das, dass ich weiter in diesem sauberen Bett liegen dürfte und auch noch gutes Essen bekäme? Vielleicht würde doch alles noch gut werden? Es musste ein Geschenk des Himmels sein!
Als der Arzt die Visite beendet hatte, begleitete Vater ihn in sein Büro. Ungeduldig wartete ich darauf, dass er wiederkam. Kurz darauf war er wieder da und berichtete. Dr. Bul-lock hatte ihm auf den Kopf zu gesagt, er wisse, dass ich völlig gesund sei, aber für Geld - für sehr viel Geld - wäre er bereit, mich im Krankenhaus zu behalten, wenngleich er dabei ein persönliches Risiko eingehe. Ich wusste, dass Vater nicht genug Geld hatte, um den Arzt für seinen »Gefallen« zu bezahlen, und bekam wieder stechende Bauchschmerzen, diesmal ein Zeichen meiner Beklemmung.
»Was jetzt, Vater?«, fragte ich.
Er wandte sich ab, sah aus dem Fenster und sagte: »Wir werden sehen. Mir wird etwas einfallen. Ich überlege, an wen wir uns wenden können.«
Plötzlich fiel mir ein, dass ich Mutter seit dem
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