Weine ruhig
ich nichts spüren würde. Ich würde eine Vollnarkose bekommen und während der ganzen Operation schlafen. Natürlich wollte ich wissen, was sie im Einzelnen machen würden. Er vermied es jedoch, auf meine Fragen zu antworten, und sagte nur: »Hab keine Angst, alles wird gut. Dr. Bullock ist ein ausgezeichneter Chirurg.«
Doch die bevorstehende Operation machte mir Angst, und ich grollte meinen Eltern, die in diesen möglicherweise gefährlichen Schritt eingewilligt hatten, damit wir bleiben konnten. Hatten wir eine Chance, gerettet zu werden, wenn ich mich von der unnötigen Operation erholt haben würde? Und was, wenn ich bei der Operation starb? Ich erinnerte mich an Geschichten von missglückten Operationen, die die Verkrüp-pelung oder den Tod des Patienten zur Folge hatten. Ich war sehr angespannt und weinte nur noch, bis ich endlich einschlief.
Im Nachhinein ist es für mich nicht nur schwierig, sondern nahezu unmöglich, die Situation zu beschreiben, in der ich mich damals befand. Wir wurden erbarmungslos verfolgt und waren unmittelbar von der Deportation bedroht. Wenn Menschen, auch kleine Kinder, mit einer extremen Situation konfrontiert werden, sind sie mit einem Mal zu Handlungen fähig, die der Verstand weder begreifen noch beschreiben kann. Enorme Kräfte, die bis dahin in uns geschlummert haben, und ein unbändiger Überlebenswille befähigen uns, solche lebensbedrohlichen Situationen zu meistern. Und manchmal gehen wir Risiken ein, für die wir hinterher keine rationale Erklärung finden.
An die Operation erinnere ich mich nur noch bruchstückhaft. Zwei Nonnen hoben mich aus dem Bett auf eine Krankenbahre, und ich wurde über endlose Korridore in den Operationssaal geschoben. Das grelle Licht blendete mich. Man stülpte mir eine Maske über die Nase und ließ mich ein Betäubungsmittel einatmen, das einen unangenehmen Geruch hatte und meinen Kopf ganz leicht machte. Der Narkosearzt befahl mir zu zählen, und ich glaube, ich schlief binnen weniger Sekunden ein.
Als ich aufwachte, sah ich wie durch einen Nebel Vater neben mir sitzen. Zuerst war alles verschwommen. Auf einem kleinen Regal neben meinem Bett stand eine Vase mit Blumen; ich weiß nicht, wer sie gebracht hatte. Als ich mich bewegte, schoss ein heftiger Schmerz durch meinen Bauch. Ich berührte die Stelle, an der es wehtat, und stellte fest, dass ich bandagiert war. Ich stöhnte und wollte Vater sagen, ich hätte Durst, aber mein Mund war trocken und ein Schlauch steckte in meiner brennenden Kehle, so dass ich nicht sprechen konnte.
Ich wollte verzweifelt etwas trinken, und als ich Vater signalisierte, zu mir ans Bett zu kommen, sah ich, dass ihm die Tränen kamen. Ich war so gerührt, dass ich fast den Schmerz und den Durst vergaß. Vater weinte! Mein Vater weinte und murmelte: »Mein armes kleines Mädchen, du erleidest diese unnötigen Qualen für uns alle, du bist unser rettender Engel.«
Ich bat um etwas zu trinken, aber Vater beugte sich dicht zu mir herunter und erklärte, dass ich nach der Operation nicht sofort trinken, sondern nur meine Lippen befeuchten dürfe.
Plötzlich, wie vom Dämon besessen, griff ich die Vase, warf die Blumen weg und war drauf und dran, das faulige Wasser zu trinken. In letzter Sekunde hielt Vater mich davon ab. Ich schlug nach ihm mit meinen schwachen Armen und keuchte: »Du bist schuld, dass ich leide, jetzt lass mich wenigstens trinken!«
Vater sah mich mitfühlend an und weinte leise. Das war so überwältigend, dass ich sogar noch heute eine Gänsehaut bekomme, wenn ich daran denke. Man gab mir ein Beruhigungsmittel, und ich schlief ein.
Als ich wieder aufwachte, saß Vater neben mir und döste.
Mir ging es besser. Ich fragte, warum Mutter mich nicht besuche. Vater beruhigte mich und sagte, Mutter verstecke sich immer noch mit den Mädchen im Park. Sie habe Angst, das Krankenhaus zu betreten, weil sie befürchte, das Personal könnte sie den Behörden übergeben. Nur Vater hatte die offizielle Erlaubnis, bei mir zu sein, und er blieb die ersten beiden Tage nach der Operation bei mir und machte mir Mut. Aber ich vermisste Mutter, ich sehnte mich nach ihr. Hier lag ich nun, nach einer aus medizinischer Sicht überflüssigen Operation, und meine Mutter war in dieser schweren Zeit nicht bei mir.
Doch schließlich kam auch Mutter mich einige Male besuchen. Sie war blass und aufgeregt und kam mir dünner vor. Anspannung und Angst standen ihr deutlich ins Gesicht geschrieben. Einmal war ihr Gesicht
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