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Weine ruhig

Weine ruhig

Titel: Weine ruhig Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aliza Barak-Ressler
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vor Kummer und Leid völlig verzerrt, ihr Kopftuch saß schief, ihre Kleider waren verknittert, und sie stand nur neben meinem Bett und weinte hilflos vor sich hin. Danach wechselten Vater und Mutter sich mit ihren Besuchen ab.
    Meine Temperatur, die täglich gemessen wurde, fiel langsam. Zweimal täglich steckte mir die Nonne das Thermometer unter die Achsel, bevor sie sich um die anderen Patienten kümmerte. Wir wussten: Wenn die Temperatur wieder normal war, würde ich das Krankenhaus verlassen müssen. Also beschloss Mutter, die Schwester auszutricksen. Wenn die Nonne ihre Runde machte, nibbelte Mutter das Thermometer zwischen den Fingern, bis es auf mindestens 38 Grad gestiegen war, und steckte es dann wieder unter meine Achsel. Wenn die Schwester wieder zu mir kam und das Thermometer abgelesen hatte, trug sie den Wert in mein Krankenblatt ein, mit der Bemerkung: »Temperatur noch nicht gesunken.«
    Meine Genesung dauerte also länger als üblich, aber ich habe nur wenige Erinnerungen an die Tage, die ich im Krankenhaus verbrachte. An einen peinlichen Zwischenfall erinnere ich mich aber noch sehr gut.
    Eines Tages kam die Schwester und gab mir, wie immer, das Thermometer. Sobald sie mir den Rücken zugewandt hatte, nahm Mutter es und nibbelte es, bis das Quecksilber gestiegen war. Dann steckte sie es zurück. Als die Schwester diesmal zurückkam, sah sie das Thermometer prüfend an, dann uns, dann wieder das Thermometer. Plötzlich legte sie die Hand auf meine Stirn und schüttelte wortlos das Thermometer, bis das Quecksilber wieder im Kolben war. Dann steckte sie es mir unter den Arm und blieb stehen und wartete. Ich wusste sofort: Das Spiel war aus. Ich war vor Angst wie gelähmt. Die Krankenschwester und die anderen Patienten konnten bestimmt hören, wie mein Herz hämmerte. Es klopfte so laut, als wollte es gleich zerspringen. Mir wurde ganz heiß, und mein Kopf sank schwer auf das Kissen. Ich zitterte am ganzen Körper und fror plötzlich.
    Die Sekunden vergingen im Schneckentempo, bis die Schwester schließlich auf ihre Uhr sah und entschied, dass genug Zeit verstrichen war. Sie zog das Thermometer hervor, und als sie es ablas, sah ich das Erstaunen in ihren Augen. Ich hörte sie murmeln: »Interessant, sie hat tatsächlich Fieber -nicht so hoch wie vorher, aber immer noch über 38 Grad.« Sie notierte die Temperatur auf der Karte und verließ wortlos das Zimmer.
    Wegen der anderen Patientinnen musste ich mich zusammennehmen, um nicht vor Freude laut zu schreien. Wenn unser Betrug aufgeflogen wäre, hätte man uns sofort aus dem Krankenhaus gejagt, und wir wären verhaftet und eingesperrt worden. Jetzt hatten wir nochmals Zeit gewonnen. Mutter und ich wussten, dass ein großes Wunder geschehen war und dass wir in letzter Minute vor der Deportation bewahrt worden waren. Und es war nicht das letzte Wunder, das wir in den langen Kriegsjahren erleben sollten.
    In der Zwischenzeit war es Vater gelungen, den Rest des Geldes für den Chirurgen zusammenzubringen, der als Gegenleistung anordnete, dass ich doppelt so lange wie nötig im Krankenhaus bleiben dürfe. Doch eines Tages teilte er uns mit, dass ich gehen müsse.
    Ehe ich das Krankenhaus verließ, verband er nochmals meine Operationsnarbe, die schon völlig verheilt war. Nach meiner Entlassung kehrten wir in unsere Wohnung zurück.
    Kaum hatten wir uns dort wieder eingerichtet, erschienen - noch am Tag unseres Einzugs - zwei Gardisten und befahlen uns, mit ihnen zu kommen. Ich lag im Bett, obwohl ich gut gehen konnte. »Das Mädchen ist krank«, sagte meine Mutter zu den beiden Uniformierten, und Vater fügte hinzu: »Sie hat gerade eine schwere Operation hinter sich.«
    »Überzeugen Sie sich selbst«, sagte Mutter und hob, ungeachtet meiner Scham, mein Nachthemd hoch. »Die Wunde unter dem Verband ist noch frisch.«
    »Sie ist heute aus dem Krankenhaus gekommen«, sagte Vater. »Wir können Ihnen die Entlassungspapiere zeigen.«
    Einen Moment lang befürchtete ich, die brutalen Gardisten würden den Verband abreißen und die verheilte Wunde sehen. Glücklicherweise glaubten sie meinen Eltern, sagten aber barsch, dass wir uns, sobald ich gesund sei, zum nächsten Transport melden müssten.
    Später erfuhren wir, dass auch andere Frauen unnötige Operationen über sich hatten ergehen lassen - gegen großzügige Bezahlung natürlich -, aber kein Mädchen meines Alters. Wann immer das Thema zur Sprache kam, waren meine Eltern stolz auf mich, und sie waren mir

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