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Weine ruhig

Weine ruhig

Titel: Weine ruhig Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aliza Barak-Ressler
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dankbar bis an ihr Lebensende.
    Die antijüdischen Gesetze wurden von den Behörden erlassen, die für die »Judenfrage« zuständig waren. Doch ein paar Tage später erfuhr Mutter, dass auf Initiative von Dr. Tiso, dem katholischen Priester und Präsidenten der unabhängigen Slowakischen Republik, ein Gesetz verabschiedet worden war, dem zufolge Juden von den Deportationen ausgenommen wurden, die vor einem bestimmten Zeitpunkt zum Christentum konvertiert waren und eine beglaubigte Urkunde mit dem entsprechenden Datum vorweisen konnten.
    Mutter versuchte fieberhaft, ein solches Dokument zu beschaffen, das als schmad-tsetel bekannt war - allerdings ohne Vaters Wissen, der eine Konvertierung strikt ablehnte, auch wenn sie nur vorgetäuscht war. Nicht nur bei uns, sondern auch in anderen jüdischen Höfen wurde über dieses Thema heftig diskutiert. »Lieber einen Märtyrertod sterben, als den Glauben zu verleugnen und dadurch gerettet zu werden, selbst wenn es nur zum Schein ist«, argumentierten die meisten.
    Mutter wusste, dass sie mit ihren Bemühungen, sich einen falschen Taufschein ausstellen zu lassen, gegen ein jüdisches Gebot verstieß, dem zufolge der Tod einer solchen Maßnahme vorzuziehen war. Aber sie fühlte sich mindestens ebenso dem Gebot der pikuah nefesch - der »Rettung eines gefährdeten Menschenlebens«, wie sie es auslegte - verpflichtet und setzte sich über Vaters und ihre eigenen Bedenken hinweg.
    Es war sehr schwer, Priester zu finden, die so mutig waren, rückdatierte Konvertierungsurkunden auszustellen. Wenn man sie erwischte, konnten sie schwer bestraft werden. Viele von ihnen gehörten überdies der herrschenden Partei an, die hochgradig antisemitisch war. Die Pfarrer, die ihr Leben riskierten und den Juden halfen, waren hauptsächlich Protestanten.
    Mit Hilfe einer christlichen Freundin kam Mutter mit einem protestantischen Pfarrer in Kontakt, der zu den wenigen gehörte, die gegen das faschistische Regime opponierten. Er war bereit zu helfen. Er kritisierte die Gleichgültigkeit der
    Kirche und schämte sich für die kirchlichen Institutionen, die bei der Verfolgung der Juden oft Beihilfe leisteten.
    Mutter ging zu ihm, und er stellte ihr die ersehnten Urkunden aus. Doch das Bleiberecht, das wir mit diesen falschen Dokumenten erlangten, war nicht von Dauer, und bald mussten wir nach neuen Wegen suchen.
    Im Flüchtlingslager
    Im Laufe des Jahres 1943 hatte sich die Lage etwas beruhigt, obwohl das Jahr mit der Drohung des Innenministers begonnen hatte, dass im März, spätestens im April, die Transporte wieder aufgenommen würden. Aber das geschah nicht, vielleicht wegen der Niederlagen der Deutschen an der Ostfront. Die Russen gewannen zusehends die Oberhand, aber die Deutschen kapitulierten nicht, und ihr Rückzug erfolgte nur sehr langsam.
    Die Berichte von der russischen Front waren für die verbliebenen slowakischen Juden das Lebenselixier. Sie machten uns Mut. Die Partisanen verstärkten ihre Aktivitäten und ließen uns wissen, dass die Russen vorrückten. Doch die Behörden beschuldigten nun die Juden, den Partisanen zu helfen. Jeden, den man dabei ertappte, würde man hart bestrafen. Gleichzeitig bekam man aber den Eindruck, dass die slowakischen Faschisten mehr Toleranz gegenüber den Juden walten ließen. Sie unternahmen keine besonderen Anstrengungen, die wenigen verbliebenen Juden zu liquidieren - vielleicht erhofften sie sich dadurch eine Strafmilderung am Tag des Jüngsten Gerichts.
    So besuchten die wenigen Kinder, deren Familien nach den Deportationen noch in der Stadt lebten, wieder die Schule. Die Lehrer, die sich hatten verstecken können, trauten sich hervor und stießen zu denen, die offiziell verschont worden waren, und gemeinsam organisierten sie das Nötigste. Wir gingen wieder zur Schule, als würde uns nicht der Boden unter den Füßen brennen, es keinen Krieg geben, man die Ju-ein vergleichsweise sicherer Ort, zumindest fühlten wir uns dort sicherer als in den eigenen vier Wänden oder auf der Straße. Doch unsere Schule war auch ein Gradmesser für die Tragödie: Während dort früher siebenhundert Mädchen und Jungen zwischen sechs und sechzehn Jahren die Schulbank drückten, waren es jetzt nur noch knapp sechzig.
    Im Herbst 1943 erfuhren wir, dass einige wenige Einwohner unserer Stadt aus den Konzentrationslagern um Lublin in Polen hatten fliehen können und sich durch die Wälder zurück nach Michalovce durchgeschlagen hatten, immer nahe daran, zu verhungern

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