Weine ruhig
oder aufgegriffen zu werden. Sie berichteten ausführlich von den Gräueltaten, die an den Juden verübt wurden, besonders an Kindern, Frauen und Alten, denn inzwischen arbeitete die Vernichtungsmaschinerie der Nazis auf Hochtouren - aber diese Geschichten wurden nur geflüstert. Eine üble Stimmung verbreitete sich in unserer Stadt, die alten Ängste waren wieder da - und die Lage war nun noch schlimmer als zuvor, weil wir schon angefangen hatten zu glauben, dass alle, die bisher überlebt hatten, im Grunde sicher wären. Als weitere Deportationen angedroht wurden, versuchten die Menschen wieder, über die ungarische Grenze zu fliehen. Die Ungarn hatten die Juden bis dahin nicht behelligt - abgesehen davon, dass junge wehrdienstfähige Männer nicht zum Militär einberufen wurden, sondern Zwangsarbeit verrichten mussten.
Mutter und Vater beschlossen, uns Mädchen nach Ungarn zu schicken, zu Tante Mariska und Onkel Jenö in Budapest. Sie kontaktierten daher jemanden, der Menschen über die Grenze schleuste. Mit einem Kode aus hebräischen Wörtern in ansonsten belanglosen Briefen ließen Mutter und Vater unsere Verwandten wissen, dass wir kommen würden. Aber das Dorf, das sie für den Grenzübertritt wählten, war ein anderes als beim ersten, gescheiterten Versuch.
Es war Anfang Dezember. Wir bekamen warme Kleidung und pelzgefütterte Stiefel für den langen Fußmarsch; in eine kleine Tasche packte Mutter zusätzliche Kleidungsstücke. Als es Abend wurde, verabschiedeten wir uns schnell, um keine Zeit für Tränen zu haben und damit wir es uns nicht in letzter Sekunde anders überlegten. Wir machten uns, zusammen mit dem fremden Mann, auf den Weg zum Bahnhof, ohne Mutter und Vater, die befürchteten, dass eine zu große Gruppe Aufmerksamkeit erregen und das Vorhaben gefährden könnte.
Der Zug stand schon da, als wir zum Bahnhof kamen. Die Lokomotive stieß weiße Wolken in den Himmel. Wir folgten dem Mann in einen der Wagons und waren schon bald unterwegs. Die Erinnerungen an den ersten, erfolglosen Versuch verursachten in mir ein mulmiges Gefühl, und ich betete im Stillen, dass wir es diesmal schafften und heil ankamen.
Die Reise war überraschend kurz. Nach etwa zwei Stunden erreichten wir die letzte Station vor der Grenze. Der Mann bedeutete uns, auszusteigen und ihm zu folgen. Ich nahm meine Schwestern an die Hand. Es war schon dunkel, der Bahnhof lag fast völlig verlassen da, und niemand beachtete uns. Wir gingen ohne Umweg auf ein freies Feld zu. Der Mann lud sich die kleine Miriam auf den Rücken, wie einen Sack Kartoffeln. Sie legte ihren Kopf auf seine Schulter und schmiegte sich an ihn. Er sagte zu Rachel und mir, dass wir dicht bei ihm bleiben und nicht sprechen sollten, um an den Grenzpolizisten unbemerkt vorbeizukommen.
Schnee bedeckte die Erde, und mit jedem Schritt hinterließen wir Fußstapfen. Wir gingen über ein weites Feld; über uns hing ein tiefer dunkler Himmel. Wir sahen keinen Weg und keine Spuren, es gab keine Orientierungspunkte. Ich staunte. Woher wusste der Mann, ob wir links oder rechts oder geradeaus gehen mussten? Aber er ging zielsicher immer weiter -er kannte den Weg offenbar von seinen vergangenen Missionen. In einer Hand trug er die Tasche und auf dem Rücken meine kleine Schwester. Hin und wieder setzte er Miriam ab, ruhte sich ein paar Minuten aus, und dann schwang er sie wieder auf seine breiten Schultern.
Wir gingen eine lange Zeit, vielleicht ein paar Stunden. Ich war sehr müde, und es fiel mir immer schwerer, mit dem Mann Schritt zu halten. Meine Hände und Füße waren eiskalt. Ich dachte an die missglückte Aktion des Vorjahres, an die Bäuerin, die uns in dem Kirchturm unter der schrecklichen Glocke eingesperrt hatte, und an die bittere Enttäuschung von damals. Die Angst, dass sich diese Erlebnisse auf ähnliche Weise wiederholen könnten, lähmte mich fast, und ich zitterte innerlich, als ob mir nicht schon kalt genug wäre.
Ich weiß nicht, wie lange unsere Nachtwanderung dauerte. Schließlich sahen wir Lichter in der Ferne. Aufmunternd sagte der Mann: »Mädchen, wir sind schon in Ungarn. Wir sind sicher über die Grenze gekommen und werden bald einen Bahnhof erreichen.«
Ich staunte. Ich hatte Stacheldrahtzäune erwartet, oder bewaffnete Grenzwächter. Stattdessen waren wir durch eine einsame Landschaft gewandert, in der alles gleich aussah und eine absolute Stille herrschte.
Am Bahnhof erregten wir keinen Verdacht. Wir sprachen alle ein gutes Ungarisch.
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