Weinen in der Dunkelheit
holen dich mit dem Auto ab.«
Auf der Straße fragte ich die Fürsorgerin:
»Warum muß ausgerechnet ich dorthin? Es gibt doch noch so viele Kinder, und weshalb wollen sie ein so großes Mädchen?«
Auf einmal hatte ich viele Fragen. Sie versuchte mich zu beruhigen.
»Warte doch ab, ich hoffe das Beste für dich!«
Ich sah ein, daß es sinnlos war, darüber zu reden, und schwieg. Im Heim gab sie mir den Kuchen, und die Mädchen machten sich darüber her. Schmatzend sagten sie:
»Mensch, hast du ein Glück!«
Alle freuten sich für mich, davon wurde ich richtig angesteckt und erwartete, ebenso wie sie, mit großer Ungeduld das Wochenende.
Am Sonnabend lief ich gleich nach der Schule zum Heimtor und schaute jedem Auto hinterher, das vorbeifuhr. Mein Warten lohnte sich, nach zehn Minuten bog ein brauner Skoda in die Einfahrt, er hielt genau vor mir, und die Bäckersleute stiegen aus. Freundlich begrüßten sie mich, dann stieg ich in das Auto und winkte lächelnd den zurückbleibenden Mädchen zu.
Vorbei an vielen Gärten fuhren wir aus Berlin hinaus. Ich zweifelte an meinem Glück; außer meinem Bruder kannte ich kein Kind, das mit seinen Pflegeeltern zufrieden war. Viele, die gleich mitgenommen wurden, kamen bei den ersten Erziehungsproblemen zurück. Bei einem Kind ging es vier Wochen gut, bei dem nächsten vier Jahre. Diese Kinder hatten es besonders schwer. Heim, Zuhause und wieder Heim, wo gehörten sie hin?
Ein Junge aus meiner Klasse kam nach sechs Jahren zurück, weil die Mutter plötzlich ein eigenes Kind bekam. Total verschüchtert saß er als Muttersöhnchen unter uns und war unseren Hänseleien ausgesetzt.
Später schlug sein Verhalten ins Gegenteil um; er reagierte mit Wutanfällen, wobei er alles zerschlug, was er greifen konnte, selbst vor dem Erzieher machte er nicht halt. Als sie ihn daraufhin in ein anderes Heim bringen wollten, weinte und schrie er verzweifelt, dabei versuchte er, sich an jedem Gegenstand festzuhalten. Damals verkroch ich mich hinter einer Schrankecke und sah aus meinem Versteck, wie er, am Boden liegend, das Bein des Erziehers umklammerte und dabei völlig verheult und verrotzt bettelte:
»Ich bin wieder lieb, ich bin wieder lieb! Bitte, bitte, bringt mich nicht weg!«
Sie zogen ihn erbarmungslos aus dem Gruppenraum. Sein Schreien beschäftigte mich noch tagelang, und ich hatte Angst, mir könnte das gleiche geschehen.
Das war drei Jahre her, und nun saß ich bei fremden Leuten im Auto, die meine Pflegeeltern werden sollten, was mir gar nicht gefiel.
Wir hielten vor einem großen Grundstück. Sie zeigten mir den Garten und das Haus.
»Hier verbringen wir die Wochenenden und die Ferien. Freust du dich?» fragte sie mich.
Stumm nickte ich. Sie sind bestimmt reich, dachte ich, aber als sie vor jedem Möbelstück stehen blieben und mir dazu Erklärungen gaben, woher das gute Stück stammte und welchen Zweck es erfüllte, langweilte ich mich. Angeber, richtige Angeber, dachte ich. Hatten sie mich nur geholt, um mir zu zeigen, wie gut sie leben? Na Hilfe! Da zog ich die Weite des Waldes um unser Heim vor.
Zum Glück dauerte die Führung durch ihr Wochenendmöbelhaus nicht lange. Erleichtert atmete ich auf, als wir nach Berlin zurückfuhren. In ihrer Wohnung verzog ich mich in meine vier Wände und überlegte. Irgendwie fühlte ich mich bei diesen Leuten nicht wohl. Ich verspürte den Drang, abzuhauen, weg von hier, nichts wie weg und zurück ins Heim.
Die Angst, mich zu verlaufen, siegte schließlich, denn meine Kenntnisse von Berlin reichten vom Bahnhof Schöneweide bis zum Heim. Vom Nachmittag bis zum Abend saß ich grübelnd im Zimmer, es wurde weder nach mir geschaut noch gerufen. Ob die überhaupt noch wußten, daß ich da war?
Gespannt ging ich ins Wohnzimmer. Dort saßen die braven Bäckersleute beim Abendbrot und sahen fern. Wie ein Fremder blieb ich stehen und wußte nicht, was ich machen sollte. Aus dem Schrecken in ihren Augen konnte ich sehen, daß sie durch mein plötzliches Erscheinen an eine vergessene, lästige Pflicht erinnert wurden. Wenige Sekunden später hatten sie sich in der Gewalt und baten mich freundlich zu Tisch.
Mir war alles vergangen, ich konnte den Ausdruck auf ihren Gesichtern nicht vergessen. Ich sagte »Gute Nacht« und ging ins Bett.
Allein, bei fremden Leuten, im fremden Bett kam ich mir verraten und verkauft vor. In diesem Moment schwor ich mir, wenn das hier schiefging, nie wieder Eltern haben zu wollen, weder eigene und schon
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