Weinen in der Dunkelheit
mir:
»Was willst du denn noch hier?«
Mit einem bösen Blick sah ich sie von oben bis unten an und antwortete:
»Halten Sie Ihr blödes Maul!«
Im Fernsehraum trat Totenstille ein, und sie mek-kerte los, wie ich es erwartet hatte. Mein Interesse galt nur dem Fernseher, Mit meiner Gleichgültigkeit zeigte ich ihr, daß sie für mich Luft war. Endlich verließ sie den Raum, und zehn Minuten später ging ich auch. Kein Erzieher kam noch zu mir, um mir auf Wiedersehen zu sagen. Es war meine letzte und kürzeste Nacht im Heim.
Im Jugendwohnheim
Ohne Koffer fuhr ich am nächsten Morgen mit der S-Bahn nach Treptow. Einige langhaarige Typen saßen im Abteil. Als sie sahen, daß ich aussteigen wollte, sagte einer:
»Ah, kiek mal, die jeht ooch zur roten Laterne.«
»Blödsinn«, sagte ein anderer, »die habe ich da noch nie gesehen.«
Vor Scham machte ich, daß ich aus der S-Bahn kam.
Die Heim l eiterin begrüßte mich lächelnd. Mit großen, veilchenblauen Kuhaugen sah sie mich an:
»Aha, du bist also die letzte, auf die wir gewartet haben.«
Ihr Blick hatte etwas Aufdringliches, als versuchte sie, bis auf den Grund meines Wesens vorzustoßen. Die Augen glichen zwei Röntgenstrahlen.
Ich erwiderte nichts. Sie ging mit mir in die zweite Etage. Auf den Treppenabsätzen saßen Mädchen an Tischen und rauchten, neugierig musterten sie mich.
In einem Fünfbettzimmer zeigte mir Frau Mücke mein Bett und den Schrank für meine Sachen. Dabei stellte sie fest, daß ich keinen Koffer dabeihatte. In strengem Ton fragte sie:
»Wo sind deine Sachen?«
Ich sagte ihr, daß ich bis gestern im Krankenhaus gewesen sei.
»Du holst sofort deine Sachen, hier wird nichts geklaut, jeder Schrank hat seinen Schlüssel.«
Sie hatte mich durchleuchtet! Nachdem ich mit meinem Koffer zurück war und den Schrank armeemäßig eingeräumt hatte, kamen die vier Mädchen, die zu meinem Zimmer gehörten, herein.
Die erste war eine Schönheit, bloß das hochtoupierte Haar fand ich altmodisch. Sie stellte sich vor:
»Mein Name ist Maggy, ich lerne in den Gummiwerken.«
»Was«, rief ich erfreut, »so ein Zufall, ich lerne auch dort.«
Aber dann erzählte sie mir, daß sie eine Sonderschülerin sei und nur eine Teilausbildung machen könne. »Wir sind also in der Schule und im Betrieb in verschiedenen Klassen.«
Wie schade, dachte ich.
Die zweite hieß Regina, lernte Verkäuferin und war Maggys Freundin. Sie war mir sofort sympathisch. Danach kam Dixi, klein und rund, sie wollte Maurer werden. Ich fragte sie, ob es nicht zu schwer sei für ein Mädchen, da lachte sie nur und sagte:
»Wir werden ja sehen!«
Zu meiner Freude war das vierte Mädchen aus meinem Heim. Erika lernte ebenfalls Verkäuferin. Wir schlossen sofort Freundschaft. Ihre jüngere Schwester Karin war in meiner Gruppe gewesen. Ihr hatte ich vor einigen Jahren den Tod ihrer Mutter mitgeteilt.
Karin, ein großes, schlankes Mädchen mit tiefliegenden Augen, hatte Schwierigkeiten mit der Sprache. Wenn sie sich aufregte, stotterte sie stark. Wir saßen beim Mittagstisch, da trat die Hausleiterin an unseren Tisch und sprach mit der Gruppenerzieherin, dabei schauten beide zu Karin. Nach dem Essen sagte die Erzieherin zu uns:
»Kinder, hört mal, Karins Mutti ist eben gestorben, bitte sagt ihr noch nichts, wir wollen ihr das Wochenende in Priros nicht verderben.« Wir freuten uns auf Priros und waren zu Karin besonders lieb. Keine hänselte sie, wenn sie stotterte. Unser verändertes Verhalten fiel Karin natürlich auf, sie fragte mich: »Was habt ihr denn alle?«
»Ach, nichts«, meinte ich. Sie liebte ihre Mutter sehr. Oft war ich mit ihr ins Krankenhaus gefahren, wo sie sterbenskrank lag. Gesehen habe ich Karins Mutter nie, sie ging lieber allein zu ihr. Ich wartete dann die Stunde draußen vor der Tür. Niemals vergaß sie, von ihren drei Mark Taschengeld Blumen zu kaufen, um ihrer Mutter eine Freude zu machen.
Im Priroser Wald, wir gingen allein spazieren, fing sie plötzlich an zu weinen.
»Warum weinst du?« fragte ich sie.
»Ihr seid alle so anders zu mir, bestimmt ist etwas mit meiner Mutti passiert, ich fühle es.«
Sie tat mir furchtbar leid, und ich sah nicht ein, weshalb ich ihr den Tod ihrer Mutter länger verschweigen sollte. Vorsichtig sagte ich leise:
»Karin, du hast recht, deine Mutter ist gestern gestorben.«
Sie weinte und weinte. Still lief ich mit ihr eine Stunde durch den Wald, ich konnte sie nicht trösten. Wir wurden schon von den anderen
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