Weinen in der Dunkelheit
vermißt. Aber als sie Karins Gesicht sahen, sagten sie kein Wort und ließen uns in Ruhe.
Jetzt wurde Karins Schwester im Mädchenwohnheim meine beste Freundin.
Die Fabrik
Zum ersten Gespräch für die neuen Lehrlinge und ihre Eltern in einer Weißenseer Gaststätte ging ich allein. Von einem Mädchen erfuhr ich, daß wir uns am nächsten Morgen um sechs Uhr in einer Fabrik in Ostkreuz treffen sollten.
Noch fast in der Nacht wurde ich von der Nachtwache geweckt über meine Kleidung, die ich anziehen wollte, dachte ich nicht lange nach; alte Jeans und einen alten Pullover trug ich am liebsten. Nur bei meinen Haaren überlegte ich, ob ich sie zusammenbinden oder offenlassen sollte. Ach, egal, was die anderen von mir denken, ich ließ die Haare in voller Länge fallen.
Im Speisesaal saßen vereinzelt noch müde Mädchen, sie strichen sich ihre Brote für den Tag.
Auf meinen Gutenmorgengruß antwortete keine. Von da an ließ ich das Grüßen auch sein.
An der Essenausgabe standen drei Teller, einer mit Brot, einer mit Butter und einer mit Wurst. Angewidert von den durchwühlten Tellern nahm ich keine Stullen mit, trank nur eine Tasse kalte Milch und ging los.
Zwanzig Minuten wartete ich auf Marie, das Mädchen von der Elternversammlung, aber sie kam nicht. Mir war kalt ich lief allein zum Werk. Die Straßen und Häuser grau in grau, genau wie die Gesichter der Menschen, die mir so früh begegneten. Ob ich später auch mal so aussehe? überlegte ich.
Als ich rechts in die Boshagener Straße einbog und das häßliche Tor der Gummifabrik sah, bereute ich sofort, daß ich dort lernen »wollte«. Nach und nach trafen die neuen Lehrlinge ein. Der Lehrmeister kam und führte uns durch das Werk. Es war schmutzig, laut und stank gewaltig. Zum zweiten Mal bereute ich meine Berufswahl.
In der Klasse hatte ich unter den Schülern bald eine Sonderstellung. Ich war die aus dem Heim, für die anderen etwas Besonderes. Marie hatte es allen erzählt. In den Pausen saßen wir zusammen, ich mußte vom Heim berichten, sie konnten sich ein Leben ohne Eltern nicht vorstellen. Hunderte von Fragen stürmten auf mich ein, ich bemühte mich um ehrliche Antworten. Sie hatten alle eine falsche Vorstellung von Heimkindern und dem Leben dort. Sie staunten über die vielen Reisen, die ich gemacht hatte. So viele Erlebnisse hatten sie zu Hause nicht gemacht und konnten demzufolge auch nicht darüber berichten. Dann wollten sie wissen, ob wir Kinder im Heim geschlagen wurden. Ich mußte darüber lachen und erzählte von meiner einzigen Ohrfeige. Sie wollten es kaum glauben. Danach sprachen wir über ihre Eltern und wie sie lebten. Die meisten hatten Problem mit ihren Eltern. Einige wurden von den betrunkenen Vätern geschlagen oder die Eltern stritten häufig miteinander. Es gab kaum einen Schüler, der mit seinen Eltern zufrieden war. Von da an war ich nicht mehr traurig, keine Eltern zu haben.
Lieber keine als solche Eltern, dachte ich, da hatte ich es ja teilweise im Heim besser.
Berufsschule
Zur Berufsschule mußten wir bis zur Leninallee mit der S-Bahn fahren, von dort aus mit der Straßenbahn 17 in Richtung Roederplatz. Die Fahrt ging durch Straßen mit Lauben und vielen grünen Büschen und Bäumen. Ich freute mich nicht auf die Schule, trotzdem war ich neugierig darauf. Zum ersten Mal sollte kein Kind aus einem Heim da sein.
Am Roederplatz stieg ich aus und lief quer durch die Laubenkolonie. Als ich einen schönen alten Apfelbaum sah, kletterte ich über den Zaun und klaute mir einen Apfel, dabei mußte ich unwillkürlich an das Heim denken.
Waren wir am Abend durch die hinter unserem Wald gelegenen Laubenkolonien gewandert, hatten wir oft Birnen oder Äpfel geklaut. Die Erzieherin stand abseits und tat, als sehe sie nichts, dabei paßte sie auf, daß wir nicht erwischt wurden. Kam doch jemand vorbei, dann rief sie in gespielter Entrüstung:
»Aber Kinder, was soll denn das?« Schnell sprangen wir vom Zaun und taten ganz unschuldig. Waren die Leute vorbei, bogen wir uns vor Lachen. Es war ein stilles Übereinkommen zwischen den Erziehern und uns.
Wir erhielten im Heim Obst, aber selten. Und Geklautes schmeckte eben besser. Kurz nach dem Mauerbau bekamen wir zwar Grundstücke von abgehauenen Berlinern, aber da wir keine Ahnung von Gartenbau hatten und nur durch den Garten tobten oder die Gegend mit unserem Geschrei nervten, wurden uns die Grundstücke wieder weggenommen.
Jeden Morgen klaute ich mir nun von diesem Baum einen
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