Weinen in der Dunkelheit
hatte ich bald durchschaut. Das Gerede konnte ich nicht mehr hören. Jeder hielt seine Meinung für die einzige richtige. Ihre endlosen Streitgespräche endeten meistens mit sinnlosem Bierlallen.
Die Musik schien mir immer dieselbe zu sein, als wenn alle Musiker durcheinander spielten. Der alte Jazz gefiel mir besser als der Free Jazz. Ich verstand zwar nichts davon, aber die Musik ging mir unter die Haut. Dazu konnte man tanzen oder rhythmische Bewegungen machen. Das gefiel mir besser als der moderne Jazz. Ich fing an, mir nur noch Karten für bestimmte Gruppen zu kaufen, und ich hatte mehr von dem Abend.
Inzwischen hatte die Gammlerzeit ihren Höhepunkt erreicht. Die wirklich echten Gammler trafen sich in Gammlerecken. Bekannt und verrufen, sogar gefürchtet war der Tunnel im Lichtenberger U-Bahnhof. Hier versammelten sie sich, tranken und pöbelten die Leute an, die dann die Bullen riefen. Regelmäßig machten sie dort Razzia, aber es half wenig. Wenn ich den Tunnel benutzen mußte, hatte ich auch Angst vor diesen Typen. Mit Herzklopfen lief ich an ihnen vorbei. Aber nur wer auf ihre Sprüche oder Pöbeleien antwortete, mußte mit Aggressionen rechnen. Meist waren es die Erwachsenen, die ihren Mund nicht halten konnten. Schlimme Geschichten von Vergewaltigungen, Belästigungen und Überfällen verbreiteten sich in Berlin. Das hatte zur Folge, daß ich beim Umsteigen den Tunnel lieber mied.
Tag der Republik
7. Oktober, siebzehn Jahre DDR. Feiertag! Keiner brauchte zu arbeiten, alles, was Beine hatte, lief zum Alex oder auf die Karl-Marx-Allee. Die Stadt war mit Fahnen in Rot übersät. Auf den Straßen spielten Armeeorchester der NVA oder der russischen Bruderarmee ihre Volksweisen, dazu tanzten Volkstanzgruppen. Das sahen sich die Muttis und Vatis gern mit ihren Kindern an.
Für uns wurde der »Geburtstag« erst am Abend interessant. Dann spielten hier die Beatgruppen.
Ich hatte mich mit meinem Bruder verabredet und freute mich, als ich ihn in dem Gewühle der Menschen fand. Er stand mit Freunden zusammen, die ich nicht kannte. Wir winkten uns zu und begrüßten uns fröhlich. Die Jungs pfiffen und sagten:
»Tolle Puppe!«
»Mensch, wo hast du die denn her?«
Keiner glaubte, daß wir Geschwister waren. Mein Bruder war stolz auf mich. Ich hatte mich äußerlich wirklich zu meinem Vorteil verändert. Meine offenen Haare trug ich blond gefärbt, und schminken konnte ich mich dank Marie ausgezeichnet.
Wir überlegten gerade, wohin wir gehen wollten, als ein Bulle kam und ohne Grund zu uns sagte:
»Los, auseinander!«
Wir standen nur zu viert. Ich fragte:
»Wieso sollen wir auseinandergehen?«
Er sagte stur, aber etwas lauter:
»Auseinander!«
Unsere Frage, ob es verboten sei, auf der Straße zu stehen, beantwortete er mit einer Drohung:
»Noch ein freches Wort und ich nehme euch mit!«
Wir hatten uns sehr auf den Abend gefreut, und da mein Ausgang sowieso begrenzt war, hatte ich keine Lust, ihn auf einem Polizeirevier zu verbringen. Hintereinander setzten wir uns in Richtung Alex in Bewegung. Auf dem Straußberger Platz ging nichts mehr, er war so voller Menschen, daß wir nur noch auf einem Fleck stehen konnten. Ich sah, wie zwei Lastwagen versuchten, in die Menschenmenge zu fahren.
»Sind die verrückt!« sagte ich zu meinem Bruder, da hielten sie auch schon. Die Planen wurden hochgeschlagen, und Bullen mit Gummiknüppeln in den Händen sprangen schlagend in die Menschenmenge. Das löste Panik unter den Menschen aus, jeder versuchte, davonzukommen. Alles lief, soweit es ging, durcheinander, ich fand meinen Bruder nicht mehr. Die Angst vor den Schlägen drängte mich vorwärts, die Luft dröhnte von dem Geschrei der Verletzten.
Nur weg hier, war mein einziger Gedanke, ich hörte die tosende Menge hinter mir und wußte, ich war draußen.
Vor dem Haus Berlin überlegte ich, wie ich am günstigsten zum Heim zurückkäme. Da beobachtete ich eine entsetzliche Szene. Eine junge Frau wurde von mehreren Polizisten in eine Hausecke gedrückt. Dabei drehten sie ihr die Arme mit Gewalt nach hinten auf den Rücken, sie schrie wie eine Wahnsinnige vor Schmerzen. Die Menschenmenge war in eine regelrechte Panik geraten, keiner nahm sich Zeit sich um den anderen zu kümmern. Obwohl ich schrecklich entsetzt und aufgeregt war, konnte ich mich nicht von der Stelle rühren. Die Frau in ihrer Hilflosigkeit löste ha mir einen unglaublichen Zorn und Haß auf die grün Uniformierten aus, die den Staat vertraten. Ich,
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