Weinprobe
ich.
»Aber Tony, mein Lieber … geht das auch
bestimmt?«
»Ja, sicher. Ich möchte.«
Sie wirkte enorm erleichtert und schlug vor, mich
um eins am nächsten Tag abzuholen, wobei sie fest versprach, mich bis sechs
wieder zurückzubringen. Ihr Pferd, erklärte sie, starte in dem Spitzenrennen
des Tages um halb vier, und der Besitzer wolle hinterher immer stundenlang
reden, bis jeder Schritt mitsamt den Folgen analysiert war.
»Als ob ich dem was erzählen kann«, meinte Flora verzweifelt.
»Ich wünschte mir ja so sehr, das Pferd würde gewinnen, aber Jack befürchtet,
daß daraus nichts wird, eben deshalb soll ich dahin … O je, o je.«
Die Flachrennsaison ging in zwei oder drei Wochen
zu Ende, und aus der Sicht von Jack Hawthorn, schätzte ich, war das kein
bißchen zu früh. Kein Rennstall konnte die Abwesenheit seiner beiden
Haupttriebfedern lang überstehen, wenn er den Händen einer freundlichen,
unkaufmännischen Frau mit zu wenig Kenntnissen überlassen blieb.
»Hören Sie dem Besitzer respektvoll zu, teilen Sie
in allem seine Meinung, und er wird Sie wunderbar finden«, sagte ich.
»Pfui, wie boshaft, Tony«, sagte sie, wirkte aber
um einiges zuversichtlicher.
Ich ging mit ihnen auf den Hof, da Flora
hauptsächlich Tina mitgebracht hatte, um Gerards Wagen abzuholen. Wie sich
herausstellte, hatte Tina auch den Zündschlüssel: Gerard hatte ihn ihr am Vorabend
gegeben. Tina schaute eine Zeitlang wortlos auf die zerschmetterte Windschutzscheibe
und die zerfetzte Polsterung, dann drehte sie sich, sehr groß und gerade, zu
mir um, alle Gefühle sorgsam unter Kontrolle.
»Das ist das dritte Mal«, sagte sie, »daß man auf
ihn geschossen hat.«
Ich besuchte ihn am Abend und fand ihn auf
Kissen gestützt, in einem Zimmer mit drei weiteren Betten ohne Insassen. Blaue
Vorhänge, Krankenhausgeruch, weite moderne Flächen, strahlende Fußböden, wenig
Menschen in der Nähe.
»Äußerst langweilig«, meinte Gerard. »Äußerst
unpersönlich. Ein Wartezimmer für die Vorhölle. Da kommen Leute und lesen
meinen Bericht, um zu sehen, weshalb ich hier bin, dann verschwinden sie und
tauchen nie mehr auf.«
Sein Arm lag in einer Schlinge. Er sah frisch
rasiert und gekämmt aus, wirkte sehr beherrscht und ruhig. Am Fußende des
Bettes hing das Klemmbrett mit dem Bericht, den er erwähnt hatte, deshalb nahm
ich es ab und las ihn ebenfalls.
»Ihre Temperatur ist 37,2, Ihr Puls 75, Sie erholen
sich von extrahierten Vogeldunstkörnern. Keine Komplikationen. Entlassung
morgen.«
»Kein bißchen zu früh.«
»Wie fühlen Sie sich?«
»Schlimm«, erwiderte er. »Sie zweifellos auch.«
Ich nickte, hängte den Bericht zurück und setzte
mich auf einen Stuhl.
»Tina meint, es wäre das dritte Mal für Sie«, sagte
ich.
»Uh.« Er lächelte schief. »Sie war nie völlig
einverstanden mit meinem Job. Ein Veruntreuer hat mich mal aufs Korn genommen.
An sich ungewöhnlich, die Leute sind so sanft normalerweise. Wahrscheinlich
paßte es zum Rest, daß ihm auch der Mord nicht ganz gelungen ist. Er nahm eine
zu kleine Pistole und traf mich in den Oberschenkel. Konnte das Ding nicht
stillhalten … Ich würde schwören, daß er die Augen geschlossen hat, kurz
bevor er schoß.«
»Er hat nicht noch mal geschossen?«
»Ach. Na ja, wissen Sie, ich ging auf ihn los. Er
ließ die Pistole fallen und fing an zu heulen. Rührend, das Ganze.«
Ich betrachete Gerard respektvoll. Auf jemand
loszugehen, der entschlossen war, mich umzubringen, entsprach nicht meiner
Vorstellung von etwas Rührendem.
»Und das andere Mal?« fragte ich.
Er schnitt eine Grimasse. »Mm. Schon viel knapper.
Hing an einem Haar. Danach sollte ich Tina versprechen, daß ich nur noch
Büroarbeit mache, aber wissen Sie, das geht gar nicht. Wenn man Verbrecher
jagt, gleich welcher Sorte, dann besteht immer auch die Möglichkeit, daß sie
einem auf den Leib rücken, sogar bei den Industriespionen, mit denen ich mich
normalerweise befasse.« Wieder lächelte er ironisch. »Jedenfalls hat nicht der
treulose kleine Chemiker, der die Geheimnisse seiner Firma an ihren
Hauptrivalen verkauft hat, auf mich geschossen, sondern sein Vater. Außergewöhnlich.
Der Vater wollte nicht wahrhaben, daß sein feiner Sohn schuldig war. Er rief
ungefähr sechsmal an und schrie, ich hätte aus Bosheit den brillantesten Kopf
einer Generation ins Gefängnis gebracht und seine Laufbahn zerstört, um jemand
anders zu decken … er war besessen, verstehen Sie.
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