Weinrache
abhanden gekommen. Norma und Arthur hatten sich mit den Fischers bei Dianes angesagtem Lieblingsitaliener getroffen, und einem Gast war der kleine Kläffer aufgefallen. Diane brach in Hysterie aus, als sie die Töle vermisste, und scheuchte das Personal aus der Küche heraus und auf die Straße zur Fahndung, bis der Chef persönlich dem Dieb die Beute abjagen konnte. Später versuchte Diane ihr ausfallendes Benehmen damit zu entschuldigen, ihre Cleo bedeute ihr eben alles.
Wo blieb Bruno? Ungeduldig klingelte Norma von Neuem. Eigentlich hätte sie bei der Gelegenheit die Leuchten mitbringen können, fiel ihr zu spät ein. Immerhin hatte Arthur die Lampen in Brunos Auftrag besorgt, und nun stand ihr der Karton im Büro vor den Füßen herum. Endlich ertönte ein Summton, und das Tor sprang auf. Ihre Sohlen rutschten auf dem weißen Kies, und ein herrschaftliches Knirschen begleitete sie auf ihrem Weg entlang der Rabatten mit duftenden Rosen. An den Rasenkanten tanzte kein Hälmchen aus der Reihe. Offenbar konnte Bruno sich einen fleißigen Gärtner leisten. Und zusätzlich beschäftigte er eine Haushälterin. Zumindest sah die Dame, die nun die Haustür öffnete und Norma mit verhaltener Freundlichkeit musterte, mit ihrer strengen Frisur so aus, wie man sich eine Haushälterin vorstellte. Irgendjemand musste sich um die Hausarbeit kümmern, seit Agnieszka fort war. Böse Zungen behaupteten, die junge Polin habe Bruno aus Berechnung geheiratet und sei gegangen, weil sie ihr Ziel nicht erreichte. Norma dagegen vermutete, Agnieszka konnte den Aufstieg von der Küchenhilfe zur Gattin des Chefs nicht verkraften. Ob sie aus eigenem Antrieb verschwunden war oder von Bruno aus dem Haus gejagt wurde, darüber kursierten widersprüchliche Versionen. Norma verspürte Mitleid mit Bruno, dem Burgherren, der sich in Einsamkeit an seiner Kunstsammlung und dem toten Bären erfreuen musste. Die wenigen Jahre mit Agnieszka waren ebenso kinderlos geblieben wie seine erste Ehe, und soweit Norma bekannt war, besaß er keine Verwandten außer einer Tante, die mit ihrer Familie in einer süddeutschen Kleinstadt lebte.
Die Haushälterin beäugte die Besucherin mit schief gelegtem Kopf durch ihre Hornbrille; eine Haltung, die ihr etwas Vogelartiges verlieh. »Bitte, Sie wünschen?«
Normas Lächeln wirkte verlässlich, und so entspannte sich die Miene der Hausdame, als Norma höflich ihren Namen nannte und nach Bruno fragte. Herr Taschenmacher lasse sich entschuldigen, lautete die Antwort. Er habe einen Termin in seinem neuen Lokal.
»Dann ist er in der ›Villa Stella‹?«, fragte Norma.
»Nein, er musste in den Rheingau«, widersprach die Haushälterin. »Er will eine Weinstube in Eltville eröffnen.«
Norma hatte davon gehört. Brunos zweites Projekt neben dem ›Marcel B.‹
»Frau Tann, ich soll Ihnen etwas geben!« Die Dame verschwand im Haus und kehrte mit einem Briefumschlag zurück. Sie hielt Norma Stift und Zettel hin. »Bitte quittieren Sie!«
Norma zählte nach, bevor sie die Quittung unterschrieb. Die Summe stimmte auf den Cent genau. Nach oben aufzurunden und ein paar Euro draufzulegen, das war nicht Brunos Art.
Norma wandte sich mit einem Dank ab und ging über den rutschigen Kies zum Tor. Der Nachbarshund kläffte wieder, aufmunternd jetzt, und in das Bellen hinein klang ein helles Kinderlachen. Norma schob den Umschlag in die Jeanstasche und kehrte nachdenklich zum Fiesta zurück.
Im Gegensatz zum ›Marcel B.‹, seinem Herzensprojekt, hatte Bruno das geplante Weinlokal nur gelegentlich erwähnt. Dass die Weinstube so kurz vor der Eröffnung stand, war eine neue Information für Norma.
Wie mag es mit der ›Villa Stella‹ weitergehen?, überlegte sie. Durch Fischers Tod wurden die Karten neu gemischt. Vielleicht kam Bruno zurück ins Spiel? Als mutmaßliche Erbin wurde Diane die Herrin über die ›Villa Stella‹, das Architekturbüro und alle weiteren Projekte der Fischers. Für die Rolle der trauernden Witwe würde ihr wenig Zeit bleiben.
10
»Herr Tann, guten Tag!«, grüßte der Kellner zuvorkommend.
Geschickt schwenkte er sein Tablett beiseite, um Lutz Platz zu machen. Im ›Maldaner‹ herrschte ein emsiger Betrieb. Drei ältere Damen versperrten den Gang vor dem Tresen und diskutierten mit verzückten Mienen die Auswahl prachtvoller Sahnetorten.
Der Kellner begleitete Lutz zu einer freien Nische im hinteren Saal. »Wie immer? Ein Kännchen? Schwarz, ohne alles?«
Lutz nickte zustimmend und nahm
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