Weinrache
überlegt, während sie sich bemühte, den Bewegungsablauf und die Atmung zu koordinieren und mit den Anweisungen im Buch zu vergleichen, ob sie nicht besser einen Yogakurs besuchen sollte.
Verwirrt blieb sie auf der Bettkante sitzen. Sie fühlte sich wie zerschlagen. Seit Monaten hatte sie nicht mehr von den Kapuzenmännern geträumt. Nun waren sie zurückgekehrt und hatten den geisterhaften Mönch mitgebracht, den sie die Arbeit machen ließen. Hieß das, alles würde von vorn anfangen? Die Schlaflosigkeit und die Albträume, und sie konnte nicht sagen, was quälender war: die Sehnsucht nach Schlaf oder die Angst vor den Träumen. Damals hatte sie sich eingestehen müssen, dass sie dem Polizeidienst nicht mehr gewachsen war. Sie wollte zur Polizei, seit sie als zehnjährige Zeugin einen Bankräuber beschreiben konnte. Sie hatte ihn aus dem Auto heraus beobachtet, und kurz darauf wurde der Mann gefasst. Wie viel ihre Angaben dazu beigetragen hatten, wusste sie nicht. Aber sie erinnerte sich genau an das Gefühl, von fremden Erwachsenen ernst genommen zu werden. Man fragte nach, hörte ihr zu, brachte Schokolade. Und dann das lebhafte Treiben in den Büros! Das Schrillen der Telefone überall. Die Uniformierten auf den Gängen. Das war eine aufregend neue Welt für ein Mädchen, in dessen Elternhaus das Schweigen regierte, seit der Vater tot war. Mit den ersten Berufsjahren kehrte Ernüchterung ein, aber ihre Liebe zu dem Beruf blieb. Nach der Entführung, die sie ohne körperliche Verletzungen überstand, hielt sie auf einmal die Hierarchien nicht mehr aus. Sie ertrug es nicht, an Befehle und Verordnungen gebunden zu sein. Immer wieder befiel sie die Panik, ersticken zu müssen, wenn sie längere Zeit in Besprechungen verbrachte. Mit dem Entschluss, den Dienst zu beenden, verloren sich die Angstattacken.
Arthur hatte unermüdlich auf sie eingeredet. Eine Kriminalkommissarin, die sich während einer Entführung durch kolumbianische Verbrecher als kompetent und konfliktfähig erwies und sich anschließend vor Traumgestalten fürchtet, benehme sich lächerlich. Eine Art Kompliment für ihre Tapferkeit sollte das sein, und war in Wahrheit ein Ausdruck der Hilflosigkeit. Die Vorbilder ihrer Traumwesen seien keine Fiktion, ihre Waffen keine Hirngespinste, sondern bestechende Realität, hatte sie sich verteidigt, bis er in seiner Erbärmlichkeit wortlos aufstand und sie als Siegerin ohne jedes Gefühl des Triumphs zurückließ.
Sie wollte ihm so vieles verzeihen. Dass er die Lage am Anfang völlig falsch einschätzte, konnte sie ihm nicht vorwerfen. Zuerst hatte er die Gefahr nicht sehen wollen oder können und den überheblichen Gringo herausgekehrt, was die Männer gegen ihre Geiseln in Rage brachte. Diese Torheit hätte sie ihm nachgesehen, nicht aber seine Missachtung ihr gegenüber. Es wäre gar nicht so weit gekommen, hätte er ihre Bedenken nicht übergangen und sie dadurch in die gefährliche Situation hineinmanövriert. Er hatte dem deutschen Entwicklungshelfer, den er aus der Hotelbar kannte, großspurig die Unterstützung der Kaffeebauern versprochen, wollte sich aber zuvor selbst ein Bild von der Hilfsorganisation machen. Das Dorf lag drei Stunden entfernt. Norma hatte schon bei der Abreise ein mulmiges Gefühl, doch Arthur ließ nicht mit sich reden, und so fuhr sie widerwillig mit. Die Männer waren ebenso gewalttätig und skrupellos wie dumm. Als Norma eine deutliche Chance zur Flucht sah, brach Arthur zusammen. Die Schwäche konnte sie ihm verzeihen, nicht aber, dass er ihre Pläne aus Feigheit an die Verbrecher verriet.
Arthurs Verrat hatte den Hass geboren, ein hungriges Geschöpf, das seine Lebensenergie aus den Auseinandersetzungen zog und nach der Trennung von Arthur nur scheinbar verkümmerte. In der Nacht im Taunus lebte es wieder auf, ergriff Besitz von ihr und überwältigte sie, bis sie den Fuß auf das Gaspedal stellte und Kurs auf Arthur nahm.
War sie eine Mörderin? Hatte sie ihren Mann getötet und verscharrt und diese ungeheuerliche Tat verdrängt, sodass sie sich nicht erinnern konnte? Eine unglaubliche Vorstellung, die ihr trotzdem nicht aus dem Kopf wollte. Sie könnte einen Psychiater aufsuchen, der mittels Drogen oder Hypnose einen Zugang zu ihrem Unbewussten suchen sollte, doch das blieb eine hypothetische Alternative. Es hieße, sich erneut einer unkontrollierbaren Situation auszuliefern.
In der Wohnung war es stickig. Solange das Unwetter andauerte, wollte sie die Dachfenster
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