Weinrache
verschwand in der Küche, und als sie gleich darauf in die Diele zurückkehrte, hatte sie den Kittel abgelegt. Sie ging zum Wandschrank, nahm eine Flasche heraus und lümmelte sich auf das weiße Sofa. Während sie den Kognak aus der Flasche schlürfte, durchstöberte sie die Post auf dem Couchtisch.
Einen besseren Beweis, dass niemand sonst im Haus war, konnte Norma nicht bekommen. Jetzt musste sie nur warten, bis das Mädchen den Dienst beendet hatte. Nach einer zähen Viertelstunde war es so weit. Das Mädchen stellte den Kognak zurück und sortierte die Briefe und Umschläge, bis sie mit dem Ergebnis zufrieden war.
»Bis zum nächsten Mal, du intrigante Kuh!«, rief sie vergnügt und warf die Haustür hinter sich zu.
Die Tür glitt mit einem sanften Schmatzen ins Schloss.
Norma schlich auf Zehenspitzen los. Ihr Puls beschleunigte sich. Sie war eine ungeübte Einbrecherin, machte sie so etwas doch zum ersten Mal. Sundermann müsste hier sein, dachte sie, von diesem heftigen Wunsch überrascht. Der undurchschaubare Tiri mit seiner ansteckenden Gelassenheit. Ihm würde ein Einbruch nicht den Schweiß auf die Stirn treiben.
Es hatte sein Gutes, nicht mehr die Kriminalhauptkommissarin zu sein, dachte sie und musste sich beherrschen, nicht hysterisch zu gackern. War sie auf dem besten Weg, sich in einen Kriminellen zu verlieben und sich damit der Reihe jener Frauen anzuschließen, für die sie bisher nur Unverständnis, wenn nicht Verachtung übrig hatte? Verurteilte Mörder und andere Übeltäter erhielten Briefe von Verehrerinnen, und in manchen Fällen führte eine solche Romanze zur Heirat. Norma hatte diesen Frauen ein Helfersyndrom unterstellt oder, noch gemeiner, eine mangelhafte Attraktivität. Nach der ebenso kurzen wie unglücklichen Beziehung zu Jan Petersen, ihrem Vorgesetzten im Bremer Kommissariat, hatte es für sie jahrelang keinen anderen Mann als Arthur gegeben, wenn man von einer mädchenhaften Schwärmerei für Pablo Lobo absah, bei der sie sich in bester Gesellschaft befand. Irrational und ohne Konsequenzen für ihren Vorsatz, nach der Trennung von Arthur allein durchs Leben zu gehen. Das Dasein als Single bot unzählige Vorteile für eine Frau, die die Unabhängigkeit so liebte wie sie, lautete ihre derzeitige Überzeugung.
Also los! Was war mit dem Raum dort drüben? Die Tür auf und hinein. Ein Schlafzimmer in rosa und weiß, die Sonnenstrahlen brachen sich in den bodenlangen Vorhängen. Hatte sie Arthur mit hineingenommen? In dieses Bett? Hexe, dachte sie, und wandte sich um. Als sie den Raum verlassen wollte, bemerkte sie in Augenhöhe vier tiefe Löcher im weiß lackierten Türblatt; sie bildeten ein Rechteck im Hochformat. Was hatte das zu bedeuten?
Norma zog die Tür sanft zu. Welche Geheimnisse hielten die übrigen Zimmer bereit? Auf leisen Sohlen überquerte sie den Flur und öffnete eine der hinteren Türen: ein Bad, eindeutig Dianes Reich. Pompös war das Wort, das Norma dazu einfiel. Das Arbeitszimmer befand sich nebenan. Ein kühler Raum mit hoher Fensterfront: schlichte schwarze Büroschränke, zwei übergroße Schreibtische mit gläsernen Platten mitten im Raum, ein Arbeitsplatz mit Computern, ein Zeichentisch und an den Wänden Baupläne und großformatige Architekturskizzen. Kaum Persönliches, abgesehen von einigen Fotorahmen an der Wand neben dem Fenster. Norma ging näher heran. Keine Familienbilder, wie sie vermutet hatte, sondern Aufnahmen aus dem Architekturbüro: die Fischers und ihr Team in ausgelassener Runde. Daneben hingen gerahmte Auszeichnungen für diverse Wettbewerbe, ausgestellt auf Diane Fischer, und Zeitungsausschnitte über erfolgreiche Projekte. Normas Beklemmung wich einem nervösen Jagdfieber, das zu kribbeln begann, als sie sich einen Artikel genauer anschaute: ein Ausschnitt aus einer Architekturzeitschrift eines älteren Jahrganges. Es ging um die Betreuung von Praktikanten, und das damals noch junge Unternehmen wurde als hervorragendes Beispiel vorgestellt. Das Foto zeigte zwei Studenten neben einem Zeichentisch, einen Mann und eine Frau. Die jungen Leute schenkten dem Betrachter ein ungezwungenes Lächeln. Darunter die Namen: Franziska Katz und Konstantin Sundermann.
Tiri hatte gelogen. Er behauptete, Moritz Fischer nicht persönlich zu kennen. Warum verschwieg er ihr die Wahrheit? Um nicht mit dem Mord in Verbindung zu geraten? Das wäre bei einem Mann mit seiner Vergangenheit durchaus verständlich und als eine reine Vorsichtsmaßnahme zu
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