Weinrache
Haken genommen hatte. Doch das Frösteln ließ sich nicht ausschließlich dem kühlen Windhauch anlasten, der von der ›Hohen Wurzel‹ herunterstrich.
Wolfert eilte ihr entgegen.
»Sag mir endlich, was los ist!«, bat Norma. »Die kleine Polizistin hat unterwegs keine Silbe verloren.«
Wolfert beäugte sie abschätzend durch die dicken Brillengläser, als wäre er sich nicht sicher, wie viele Informationen er ihr zumuten dürfte. Der Tote trage die Kleidung, wie Norma sie beschrieben habe: Jeans, einen vormals hellen Pullover, darunter ein dunkelblaues Leinenhemd, aufwendig gearbeitete Schuhe. »Außerdem hat er diese Narbe am Knie, die du angegeben hast. Und die Haarfarbe stimmt. Grau. Wenn auch ohne Zopf.«
»Er war beim Friseur?«
Das könne man so nicht sagen, antwortete Wolfert gedehnt. »Sieht aus, als hätte jemand den Zopf abgeschnitten. Wie eine Trophäe. Wir haben auch keine schwarze Hornbrille gefunden, was allerdings weniger verwunderlich ist, wenn man bedenkt, wo er …«
Wolfert legte eine Pause ein. »Es tut mir so leid für dich, Norma.«
Ihr Herzschlag beschleunigte sich. »Was ist mit Arthur geschehen?«
»Lass uns zuerst zu den Kollegen gehen.«
Dirk hätte den Streifenwagen herbeordern können, dachte Norma. Vermutlich war er froh, eine Weile vom Treiben dort fortzukommen.
Wolfert schlug einen Hauptweg ein, der zwischen dem zerwühlten Gehege der Hausschweine und der Ziegenweide hindurch zum Wald führte. Schweigend gingen sie an den Weideflächen der Wisente entlang. Weiter oben schloss sich das weitläufige Waldgehege an, das sich mehrere Braunbären mit einem Wolfsrudel teilten. Norma kannte sich im Tierpark gut aus. Mehrmals im Jahr besuchte sie die Fasanerie. Neben verschiedenen Haustieren hatten Wildtierarten hier ein Zuhause gefunden, die in Deutschland heimisch sind oder zu früheren Zeiten hier lebten. Viele Wiesbadener Bürger unterstützten den Tierpark als Paten. Auch Arthur gehörte zu den Sponsoren. Bruno war ebenfalls sehr engagiert und hatte ihn angeworben. Norma gefiel der soziale Gedanke des Trägervereins, der auf Eintrittsgelder verzichtete und stattdessen auf die Spenden der Besucher baute. So konnten sich auch arme Familien den Besuch leisten, und entsprechend groß war gewöhnlich die Zahl der Kinder vor den Wildgehegen, auf der Streichelwiese und dem Spielplatz. An diesem Morgen liefen Streifenwagen und die Schar der Polizeibeamten in Uniform und Zivil den Tieren den Rang ab. Aufgeregte Ferienkinder ließen sich nur widerstrebend von zwei energischen Polizisten hinter den Plastikbändern halten, die den Weg zum Bären- und Wolfsgehege versperrten.
Ein weiterer Beamter hob das Absperrband für Wolfert und Norma in die Höhe. Hinter dem hohen Drahtzaun war kein Tier zu sehen, weder Wolf noch Bär. Den scheuen Wölfen bot das Dickicht genügend Deckung vor neugierigen Blicken. Die Bären ließen sich sonst gern von der hölzernen Empore beim Faulenzen beobachten. Einige hatte die Jugend in Käfigen fristen müssen und durften nun als alte Bären eine Ahnung vom freien Leben bekommen. Dazu gehörte das Baden im Teich unterhalb der Aussichtskanzel. Eine langgestreckte Rampe führte hinauf. Eine Schar von Beamten in weißen Schutzanzügen hielt sich dort auf und suchte nach Spuren.
Milano tappte unbeholfen heran. In seinem schwammigen Gesicht zeigte sich eine ungesunde Röte, und auf der Stirn glänzten Schweißtropfen. Die Arbeit in der Natur bekam ihm schlecht.
»Wie siehts aus?«, fragte Wolfert.
Milano gab einen Knurrlaut vor sich. »Hoffnungslos siehts aus. Bei dem täglichen Treiben hier oben werden wir kaum verwertbare Spuren finden können. Wir sollten den Zaun von außen absuchen lassen.«
Sein Blick streifte Norma und blieb auf Wolfert haften. »Hast du ihr alles gesagt?«
Norma hatte genug von der Geheimniskrämerei. »Nichts Konkretes hat er mir gesagt! Bitte klär du mich auf, Luigi!«
Milano eilte nicht der Ruf einer ausgefeilten Sensibilität voraus. Diesem Vorurteil wurde er gern gerecht. Er hob den fleischigen Arm und zeigte über den mehr als mannshohen Drahtzaun hinweg. »Ein Tierpfleger hat den Toten heute Morgen im Dickicht gefunden. Es waren die Bären, die ihn umhergeschleift haben, meinen die Pfleger. Die Wölfe … na ja … haben ein bisschen an ihm herumgeknabbert.«
Die Jahre als Polizistin hatten Norma gelehrt, in Ausnahmesituationen die Gefühle abzuschalten, allein den Verstand arbeiten zu lassen und diese Technik während der
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