Weinrache
Dienstzeiten durchzuhalten. In den Stunden danach waren die Emotionen umso stärker durchgebrochen, aber dann hatte sie sich zurückziehen können. Auf diese Fähigkeit versuchte sie, sich jetzt zu besinnen.
»Was willst du mir damit sagen, Luigi? Wurde mein Mann von einem Bären getötet?«
Wolfert hatte irgendwo einen Klappstuhl aufgetrieben, den er eilig herantrug. »Setz dich, Norma. Soll ich dir einen Kaffee besorgen?«
Die Stiche hatten sich zu Messerhieben gesteigert. Irgendwie war in ihrem Magen zu allem Übel ein Feuer ausgebrochen. Sie drückte die Faust auf den Bauch. »Bloß nicht.«
Sie blickte zu dem Tor hinüber, das von den Beamten der Spurensicherung in beiden Richtungen lebhaft passiert wurde. Der Fahrweg führte zu einem abseits gelegenen Stallgebäude. »Die Leute gehen zu den Biestern rein?«
Wolfert beruhigte sie in einem unverhofft väterlichen Tonfall. »Keine Sorge, die Teddys sind im Bärenhaus eingesperrt. Und die Wölfe haben mehr Angst als Vaterlandsliebe.«
»Das sagen die!«, schnaufte Milano und meinte vermutlich die Tierpfleger.
Er wandte sich Norma zu. »Wir können im Augenblick überhaupt noch nichts sagen. In welchem Zustand der Mann dort hineingekommen ist. Ob er bereits tot war, und jemand hat ihn in das Gehege geworfen. Oder ob er über den Zaun geklettert ist.«
»Warum hätte er das tun sollen?«, fragte Norma. Ihre Stimme hallte im eigenen Kopf hölzern wieder.
»Um sich das Leben zu nehmen«, warf Wolfert ein.
Norma sah erschrocken auf.
Milano nickte zustimmend. »Man mag es sich nicht vorstellen. Trotzdem kann ich mich an einen Fall erinnern. Ein Lebensmüder war in einen Raubtierkäfig eingedrungen, um sich von den Löwen …«
Wolfert unterbrach ihn. »Jetzt lass doch, Luigi! Erspar uns die Einzelheiten.«
Norma bemühte sich, in den Bauch zu atmen und das Feuer durch Entspannung zu löschen. »Wer sich auf diese Weise umbringen will, muss zuvor gewisse Fantasien habe, denke ich. Zumindest braucht er ein Interesse an Raubtieren.«
Wolfert hörte aufmerksam zu. »Du meinst, der Selbstmörder will in seinem Tod zum Tiger werden?«
Norma holte tief Luft und nickte. »So in der Art. Ich weiß zu wenig von Psychologie. Aber in einem Punkt bin ich ganz sicher: So ein Selbstmord passt nicht zu Arthur. Er konnte mit Tieren nichts anfangen. Abgesehen davon hatte er niemals die Absicht, sich umzubringen.«
Einer der Männer in Weiß gab Milano ein Zeichen. Man sei jetzt so weit, rief er halblaut.
Milano beugte sich zu Norma herab. »Es ist deine Entscheidung, Norma. Du kannst selbstverständlich warten, bis der Tote in der Rechtsmedizin liegt. Gewaschen und zurechtgemacht. So weit möglich.«
Norma stand auf. »Erspare dir und mir das Gesülze, Luigi. Du brauchst so schnell wie möglich Gewissheit. Das will ich auch. Also gehen wir.«
Ein Polizist zog das Tor auf, und Norma schritt, begleitet von Wolfert und Milano, dem Bärenhaus entgegen. Mit der irrsinnigen Hoffnung, der Tote wäre ein Fremder.
29
Milano schwitzte.
Mit einem großen karierten Taschentuch trocknete sich der Kriminalbeamte die Stirn. Lutz dagegen kam der helle und sparsam möblierte Raum kühl vor. Dieses Empfinden mochte von seiner eigenen inneren Kälte herrühren. Milanos hagerer Kollege hatte Kaffee mitgebracht, schwarz für sich selbst und Lutz, mit drei Stück Zucker für Milano, und die Pappbecher neben der Mappe abgestellt, die Milano auf dem Tisch platziert hatte. Die Kriminalbeamten saßen Lutz gegenüber. Der Stuhl neben Lutz war frei. Lutz sah angewidert zu, wie Milano das süßliche Gebräu hinunterkippte. Als er den Pappbecher aufnahm, merkte er, dass der Kaffee kalt war. Er stellte den Becher zurück.
»Ich habe frischen angefordert«, bemerkte Wolfert mit einem fürsorglichen Blick durch die starken Brillengläser, als hinge das Wohlergehen seines Gastes von einem Becher Kaffee ab.
Lutz betrachtete die braune Aktenmappe. Er fragte sich, ob Fotos darin sein mochten. Mit Sicherheit hatte man ihn von allen Seiten fotografiert, jede Schramme, jede Bisswunde im Detail festgehalten. Ihn schauderte bei der Vorstellung, Milano könnte die Mappe mit seinen Wurstfingern öffnen und alle Einzelheiten vor ihm ausbreiten.
Milano dankte ihm für das Kommen. Die Beamten hätten ihn auch zu Hause aufgesucht, aber Lutz war es lieber so. Er hoffte, seine Gefühle in diesem anonymen Raum eher unter Kontrolle zu halten.
»Ihre Schwiegertochter«, schnurrte Wolfert, »hat Ihren Sohn
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