Weinzirl 02 - Funkensonntag
der Pathologe tendiert zur Ansicht, es sei gegen fünf
Uhr morgens verabreicht worden – plus oder minus ein, zwei Stunden«, sagte
Gerhard. »Im Bericht stand, dass man aufgrund der Abbauprodukte im Blut die
Dosierung berechnen kann. Da aber jede Leber eine andere Enzymausstattung
besitzt und das Medikament sehr individuell verstoffwechselt wird, können die
Leichenschnetzler nur eine Zeitspanne, keinen Zeitpunkt angeben. Aufgewacht
wäre er dann – bei der angewendeten Dosis – zwischen fünf und sieben am Abend.
Noch vor dem Anzünden.«
»Aber es war jedenfalls nicht untertags«, rief Jo triumphierend.
»Dann müsst ihr doch nur noch rausfinden, wer in der Nacht und den frühen
Morgenstunden am Funken war.«
»Sehr schlau, danke für den Hinweis. Und nun fragen wir uns, und ich
frage dich: Wie konnte das unbemerkt bleiben? Denn die Funkenwache – und das
waren drei Jungs – war die ganze Nacht da. Was also würde Fräulein Akademikerin
folgern?«
»Dass es diese Jungs waren? Aber das ist doch Wahnsinn? Warum
sollten die diesen Adi töten? Gibt es denn ein Motiv?«
»Nein, eben nicht. Alle drei haben nichts gesehen, gehört, gerochen,
geschmeckt. Ich habe den Eltern dringend geraten, die Kids unter Hausarrest zu
stellen, denn die Presse wird auch recherchieren und eben diese Burschen
aufsuchen wollen. Wir fahren schon verstärkt Streife vor den Elternhäusern.«
»Gut so. Aber hast du Grund anzuzweifeln, was die Jungs sagen?« Jo
war immer noch erschüttert.
»Nein, aber vor allem einer, dieser Quirin Seegmüller, ist mir
irgendwie unheimlich. Außerdem ist er im Gegensatz zu den anderen volljährig
und lässt sich nicht zu Hause kasernieren. Mir wird Himmelangst, wenn ich daran
denke, was passiert, wenn die Presse den in die Finger kriegt. Momentan haben
wir einen kleinen Vorsprung, und nun kommt’s: Ich verneige mich ehrfürchtig vor
deiner Kunst und bitte dich, mit ihm zu reden. Ich krieg kein Wort aus ihm
raus, er hasst Bullen. Er hasst die Globalisierung, er hasst die
Regenwald-Abholzer, er hasst das Establishment. Er hasst die USA , er hasst alles Militärische. Klarer
gesagt, er ist ein ganz normaler Einundzwanzigjähriger und sehr clever, und
außerdem zitiert er Gedichte. Paul Celan heißt der Futzi!«
»Heh, Commissario, keinen Sinn für die Weltliteratur? Du Banause,
und dann bittest du auch noch mich? Soll ich den Tag mit Rotstift eintragen?«
Jos lockerer Ton kam dennoch verkrampft rüber.
»Jo, lass uns ausnahmsweise mal alles Geplänkel vergessen. Ich bitte
dich. Ende!«
»Entschuldige und natürlich, ich versuche es. Ich frage mich nur,
wie ich das anstellen soll. Ich kenne den Typen doch gar nicht.«
»Nein, aber du kennst Sandra«, sagte Gerhard ganz einfach.
»Sandra? Welche Sandra?«, fragte Jo überrascht.
»Na, eins von deinen Reitgirlies, Reitbeteiligung, oder wie das
heißt. Und wie meine Supermitarbeiterin Evi recherchiert hat, holt Quirin sie
öfter mal Mittwochnachmittag gegen drei vom Reiten ab. Sie ist mit ihm in der
Theatergruppe und so ‘nem LK -Deutsch-Workshop.
Die sind da wohl sehr engagiert zusammen mit diesem Celan.« Gerhard verzog das
Gesicht.
»Echt, das wusste ich gar nicht. Den hab ich noch nie am Stall
gesehen.« Jo wurde zusehends vom Jagdeifer gepackt.
»Oder du hast ihn einfach nicht wahrgenommen. Auch bei deinem
starken Hang zu jugendlichen Lovern: Der ist wahrscheinlich selbst dir zu jung.
Außerdem entspricht er mit seinem blutleeren Aussehen und dem Ziegenbärtchen
nicht ganz deinem Ideal vom blonden Recken.«
»Idiot!«, maulte Jo und dachte an Jens. Der war nun eindeutig älter
als sie, kein Recke, aber immerhin blond.
Jo registrierte einen schnippenden Finger vor ihrem Gesicht. »Hallo
Erde an Jo, würdest du bitte weiter an unserem Gespräch teilnehmen?«
Jo schrak zusammen und war auch schon auf dem Absatz. »Nein, ich
nehme nicht mehr teil, ich fahr in den Stall und schau mal, was sich machen
lässt. Zahlst du, ich habe eh bald keinen Job mehr.«
Gerhard schüttelte lächelnd den Kopf und suchte nach seinem
Geldbeutel. Jo winkte ihm zu und sauste zum Parkplatz. Im Rückspiegel sah sie
noch, wie Gerhard am Parkplatz ankam. Da rieb sich gerade ein fuchsfarbenes
Shetland Pony an seinem VW -Bus und
verlor Büschel von Winterfell. Ein Esel kommentierte das Tun mit einem
Geschrei, das klang, als ob man auf einer Gießkanne trompeten würde. Die beiden
Kumpels waren wohl ausgebrochen und bewegten sich nur äußerst ungnädig zur
Seite, als
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