Weinzirl 02 - Funkensonntag
zeigte zum Dielenboden.
Jo blickte sich um. Eine weiße Pfote schoss aus einem Teppichknäuel
heraus und hieb nach einem Weinkorken. »Ach, das ist Fräulein Einstein, die
gehört mir neuerdings tatsächlich. Sie ist sozusagen ein Tierschutzprojekt. Als
allein erziehende, halbverhungerte Mutter wurde sie in einem Heustadel
gefunden. Die Jungen hat so ‘ne Tierhilfe an gute Plätze vermittelt, aber
keiner wollte die junge, gefallene Mutter.«
»Ach ne, und da hat dein großes
Tierfreunde-Herz-ich-adoptiere-alles-was-schmutzt natürlich Kapriolen
geschlagen.« Andrea kräuselte die Nase.
»Einstein schmutzt nicht!«, begehrte Jo auf. »Ich hab auch eine neue
Karnickeldame, damit du es nur weißt, die schmutzt auch nicht. Die folgt
lediglich ihrem ihrer Gattung seit Jahrhunderten innewohnenden Nagereflex, und
was Einstein betrifft: Sie ist lediglich ein Teppichluder.«
»Ein was? Ich kenne ein Boxenluder!« Andrea lachte laut heraus.
»Na ja, wie du siehst: Jeder Versuch, einen Fleckerlteppich akkurat
auszulegen, scheitert an diesem Tier. Sie stürzt sich auf die Fransen, und dann
bekämpft sie den Teppich mit Hinterpfotentrommelwirbel, bis nur noch ein Knäuel
übrig ist. Das ist der Sieg für Einstein, und dann packt sie den nächsten. Das
Haus ist voll von Stolperfallen, seit sie da ist!«
»Ha, dein Haus ist auch sonst voll von Stolperfallen, und ich wüsste
nicht, dass du jemals einen Teppich akkurat verlegt hast!«
»Ruhe jetzt, oder ich strafe dich mit ewigem Grappa-Entzug!«
Andrea hielt ihr kommentarlos das Glas hin und gleich noch ein
zweites. Die beiden stießen an, tranken und schwiegen. Sie blickten aus dem
Fenster, der Schnee sank unaufhörlich nieder.
Andrea durchbrach die Stille. »Ich weiß gar nicht, was du an diesem
weißen Zeug findest.«
»Schnee deckt allen Rost zu, altes Gerümpel, abgeblätterte Farben.
Schnee ist großzügig. Schnee weist den Menschen in seine Schranken. Plötzlich
ist die Allmacht der röhrenden Autobahn-Killer- BMW s
gebrochen, auf einmal zählen Stöckelschuhe nicht mehr. Schnee ist nichts für
Weicheier, Warmduscher, Festgeldanleger. Schnee ist schön, aber auch
gefährlich. Schnee ergibt putzige Schneemänner genauso wie Lawinen. Schnee
macht auch das sichtbar, was einer gern verborgen hätte: Spuren im Schnee
beispielsweise. Deine Spuren im Schnee waren noch undeutlich zu sehen.«
Andrea sah Jo überrascht an. »Du bist echt ein Fräulein Smilla für
Arme!«
»Ja, so was Ähnliches hat Gerhard heute auch schon gesagt. Spürt ihr
das nicht? Schnee ist großartig. Wenn Schnee liegt, werden die Nächte heller,
vieles wird klarer!«
Andrea hingegen sprach nach all dem Grappa zunehmend unklarer,
lallte irgendwas von wegen »ich hab Urlaub« und sank auf Jos Couch. Gott sei
Dank, dachte Jo, die überhaupt keine Lust auf eine neue Jens-Standpauke hatte.
Stattdessen schickte sie ihm eine E-Mail.
»Hi, alter Schwede, äh Schwabe! Kaum seid ihr weg, schneit es wie
verrückt. Hoffe, du kommst diese Saison noch mal für ‘ne Skitouren-Geschichte
vorbei? Sehen wir uns nächsten Sonntag auf der ITB ?
Liebe Grüße, Jo«.
Na, das war doch unverfänglich? Jos Herz klopfte. Und was, wenn er
nicht antwortete?
Als Jo um acht aufwachte, war Andrea weg. Respekt, nach all dem
Grappa! Aber Andi – Jo lächelte innerlich, denn Andrea hasste die
Verniedlichung – hatte merkwürdige Resistenzen gegen Schnaps aller Art. Ein
Zettel lag auf dem Tisch. »Hallo Süße, ich musste weg, zum Orthopäden.« Na, der
würde angesichts der Fahne begeistert sein, aber sich auch geehrt fühlen. Denn
das war Andreas Luxus: von Berlin nach Immenstadt zum Orthopäden. »In Berlin
gibt’s keine guten, zu weit von den hals- und beinbrecherischen Bergen
entfernt!«, pflegte die Frau zu sagen, die sonst Bergverächterin war. Und so
ging sie zu einem Spezl aus jenen Zeiten, als die so genannte Kemptner Szene
lange Nächte in der Diskothek Pegasus verbracht hatte. Andis Arzt war damals
ein engagierter Pegasus-Gänger gewesen – zudem ein durchtrainierter Handballer
und dementsprechend attraktiv. Heute war er ein Knochen-Sehnen-Bänder-Doktor
und immer noch schön, bloß mit weniger Haaren.
Draußen war inzwischen tiefer Winter. Noch immer legten sich dicke
weiße Flocken über die Welt. Sie wirbelten auf und bildeten Kreisel. Sie
tanzten Veitstänze, denn es wehte zudem ein kräftiger Wind.
Drüben, bei Nachbarin Resi Geschwendtner, versuchte ein älterer
Mann, seinen Bierwagen zu entladen. Er
Weitere Kostenlose Bücher