Weinzirl 02 - Funkensonntag
öffnen und den
Schlüssel innen irgendwie wieder rausfummeln. Nach dem fünften Anlauf klappte
es, aber auch nur, weil eine Berliner Tür sich einem Allgäuer Fluch nicht
widersetzen wollte: »Hurrascheißdreck, jetzt isch aber gschtuhlet!« Und
Simsalabim, der Sesam öffnete sich.
Das Treppenhaus war mit Schriften bekrakelt: Neu dazugekommen war
der Satz: »Will wohnen hier«. Ein Wunsch, den Jo nicht teilte, ihr erschien das
nun von allen Wohnorten der am wenigsten erstrebenswerte. Aus dem dritten Stock
jaulten arabische Klänge, im vierten türmten sich leere Flaschen. Im fünften
grüßte ein Elchkopf an Andreas Wohnungstür und sagte laut »Bööööö«, als Jo
aufschloss. Mitten im Raum stand ein Bett auf einer grünen Kunstrasenfläche,
aus der Plastikblumen sprossen. Oh Andrea!
Sie überlegte kurz, ob sie sich noch ins Berliner Nachtleben stürzen
sollte und verwarf den Gedanken. Gott sei Dank hatte Andrea nicht bloß ihr
Lieblingsgetränk Raki zu Hause, sondern auch einen ordentlichen Grappa. Jo
setzte sich auf den Kunstrasen und zupfte an einer der Plastikblumen.
Schließlich nahm sie sich ein Buch, ging ins Bett und schlief über der Lektüre
ein.
Am nächsten Morgen nahm sie die U-Bahn zur Messe. Wie jedes Jahr,
schien das Gelände einfach grenzenlos. Wie jedes Jahr wurde gebaut, und wie
jedes Jahr saß Jo im falschen Bus. Fatalerweise war es immer der, der genau die
Halle, in die sie wollte, nicht ansteuerte. Jo hatte bereits Plattfüße, als sie
die Bayern-Halle erreichte. Der Stand »Immenstädter Oberland« war verwaist,
aber sie erspähte ein bekanntes Gesicht vom Tourismusverband Pfaffenwinkel und
bekam die Auskunft, dass Patrizia schon seit zwanzig Minuten auf der Toilette
sei und gar nicht gut aussähe. Wie aufs Stichwort kam eine grünliche Patti mit
verheulten Augen ums Eck.
»Ich weiß schon, wie’s Kätzle am Bauch«, stöhnte Patti.
Jo sah auf die Uhr. »Okay, es ist noch früh, der Hauptansturm kommt
sicher erst. Wir machen hier kurz dicht und gehen irgendwo hin, wo du die Füße
hochlegen kannst.«
Patti nickte dankbar. »Auch wenn das jetzt blöd klingt, aber ich
habe Hunger.«
Jo sah sie prüfend an. »Kotzen und essen? Nach was wäre es dir denn?
Essiggurken?«
Patti zuckte zusammen, und Jo schob sie aus dem Stand. »Ich bin doch
nicht blöd. Da du nicht der Typ für Bulimie bist, bist du schwanger. Also was
jetzt? Gurken? Schokolade?«
»Ich hätte perverse Lust auf Bündnerfleisch. Dabei hasse ich dieses
papierene Zeug sonst«, sagte Patti gedehnt.
»Wunderbar, dann gehen wir jetzt zum Stand der Schweizer. Da gibt’s
Bündnerfleisch, und ich krieg endlich einen Kaffee Schümli. In Andreas Wohnung
gibt es nämlich keine Kaffeemaschine«, meinte Jo betont lässig.
Sie kamen nur langsam voran. Menschenmassen schoben sich durch die
Gänge, blieben immer wieder abrupt stehen, um Prospekte und kleine Give-Aways
abzugreifen. Patti war eh schon leidgeprüft und schüttelte den Kopf.
»Alles, was du nicht festnagelst, ist weg. Ratz-Fatz. Die Bücher,
die wir am Stand verkaufen, werden geklaut. Du musst aufpassen wie ein
Haftelmacher. Gestern bin ich einem hinterher und hab ihn daran erinnert, dass
er das bezahlen müsse. Und weißt du, was der macht? Er schmeißt es mir vor die
Füße und schreit: ›Dann behalten Sie doch Ihren Schrott! Zu Ihnen würd ich eh
nicht in Urlaub fahren, da verbrennt man ja noch Hexen!‹«
Jo zuckte zusammen. »Ich hoffe wirklich, Gerhard findet bald mal
eine Spur. Diese Funkenleiche versaut mir jeden Tag. Selbst hier.«
Unter düsteren Gedanken erreichten sie »die Schweiz« und deren
Fachbesucher-Café. »Grüezi« und »Salü« tönte es aus mehreren Ecken. Mit den
Schweizern pflegte Jo seit jeher einen engen Austausch. Aber so ganz ließ sich
auch hier die Endzeitstimmung nicht vertreiben. Ausgerechnet eine der nettesten
und kompetentesten PR -Frauen der
Alpenländer, eine, die zaubern konnte, alles ermöglichte und niemals geklagt
hatte über Arbeitsbelastung und ständig wechselnde, von Innovation beseelte
Chefs, wollte aufhören.
»Dinosaurier-Sterben, sollen das mal die Jungen machen«, sagte sie
lächelnd.
»Ohne dich ist die Schweiz plötzlich ein Land ohne Käse, Schoko und
Uhren. Du bist die Schweiz!« Jo klang kläglich.
Sie zuckte die Schultern. »Jeder ist ersetzbar. Lasst uns was
trinken und es positiv sehen. Ich werde die meiste Zeit des Jahres auf der
Bettmeralp leben, Ski fahren, wandern und dem Aletschgletscher zusehen. Der
Weitere Kostenlose Bücher