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Weinzirl 02 - Funkensonntag

Weinzirl 02 - Funkensonntag

Titel: Weinzirl 02 - Funkensonntag Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicola Förg
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ihren Wein
getrunken hätte und ihn mit ihren verqueren Spekulationen genervt hätte, hätte
er sich zu Hause gefühlt. So war da nur der Mond – weit weg, kalt und milchig.
    Gerhards Mittwoch begann mit Kreuzschmerzen. Er war über den
Unterlagen eingeschlafen und tat sich nun schwer, zumal die Sonne gnadenlos
fordernd hereinschien. Es war auch schon fast zehn Uhr! Einem spontanen Impuls
folgend, rief er Evi auf ihrem Handy an. Er hörte ein »Pronto« und ein
unterdrücktes Lachen.
    »Buon giorno, Bella. Hier ist dein müder Chef. Was Neues von
Haggenmüller?«
    »Morgen Commissario! Nein, er scheint vom Erdboden verschluckt zu
sein. Aber wir bleiben dran. Und du, wo bist du?« Evi klang so jung und frisch.
    »Zu Hause, noch! Ich muss mal kurz nach Ulm. Aber du hast den Laden
ja im Griff!«
    »Ulm? Gerhard, manchmal habe ich …« Evi brach frustriert ab.
    »Hast du Probleme mit meinen einsamen Entscheidungen? Bella, ich
weiß. Aber in Ulm und um Ulm und um Ulm herum, das ist mir heute früh einfach
ein Anliegen.«
    »Jobst Kürten!« Evi setzte auf den Überraschungseffekt. Gerhard
blieb stumm. »Na, ich habe deine ominösen Lawinen-Unterlagen auch gelesen! Du
glaubst aber nicht wirklich, dass der Adi Feneberg ermordet hat?«
    »Bella! Ich will Adi Fenebergs Leben Kontur verleihen, ihn kennen
lernen«, sagte Gerhard.
    »Schon okay. Und wie immer bist du über Handy unerreichbar?«
    Gerhard musste lachen. »Ja, genau! Wie immer! Same procedure as
every day!«
    Als Gerhard an der Autobahn-Raststätte Allgäuer Tor seinen Espresso
trank, war es halb elf. Irgendwie war ihm heute melancholisch zumute. Früher
waren sie hier oft in den frühen Morgenstunden eingefallen. Hier war nämlich
die ganze Nacht geöffnet. In Kempten hatte selbst das Lorenzo irgendwann
geschlossen. Das legendäre Lorenzo, eigentlich Lorenz Stüble, direkt unter der
Basilika. Da, wo Bedienung Selma das Regiment geführt hatte, und die schönsten
Männer und Frauen der Provinz ihre öligen Knoblauchspaghetti neben total
abgestürzten Alkoholikern gegessen hatten.
    Dort waren ganz unterschiedliche Gruppen der Kemptner Nachtszene
zusammengetroffen: die Abiturienten und Studenten, die bis dahin im »Nest«
gewesen waren und weltgewandt diskutiert hatten. Andere im Zirkel um einen
Tanzlehrersohn waren alle naselang mal schnell an den Gardasee zum Surfen
»gejettet« und hatten vorher im Lorenzo den Hallo-Wach-Kaffee getrunken. Heute
waren sie alle Anwälte, Ärzte, Architekten, Computerspezialisten oder Contacter
der schillernden Werbewelt.
    Die schönsten und angesagtesten Männer der Stadt hatten nicht im
»Nest« diskutiert, sondern gleich in der Diskothek Pegasus Hof gehalten. Einige
hatten damals schon gewusst, dass Schnee einfach ins Allgäu gehört. Vor allem
ins Nachtleben!
    Und die schönsten Frauen? Die hatten stufig geschnittene zottelige
Kim-Wilde-Frisuren und Overalls mit viel Einblick getragen. Oder hatten die
dauergewellten Locken geschüttelt, als sie in Latzhosen mit einfach nichts
drunter zu John Watts »No time« im Pega getanzt hatten. Sie waren auf
Privatfesten in einer Villa in Stielings versumpft, wo man jede Nacht »Live of
Brian« auf Video angeschaut hatte, bis die Mutter der Villentochter die
Invasion nicht mehr hatte ertragen können und das Video gelöscht hatte. Und
fast alle Mädels hatten Kemptens schönsten Mann, den Mann mit der
Wildlederbadehose angebetet, in dessen Dunstkreis noch andere Helden der
Provinznacht zum Zug gekommen waren.
    Und es wurde gekifft und geliebt und intrigiert und gelacht und
gehasst! Wohl denen, die dazu gehört hatten. Es war ein buntes Leben gewesen
auf den Loopings der spannenden Achterbahn der achtziger Jahre! Aids war noch
kein Thema gewesen, und die Zukunft hatte ihr überreiches Angebot ausgebreitet.
Es war ein wenig wie in »Summertime« gewesen: »Your daddy’s rich and your mum
is good looking.« Jetzt, im Jahr 2003, erlitten die reichen Väter
Firmenpleiten, und die einstmals schönen Mütter hatten Falten vor Gram. Und
irgendwie wollte sich die Leichtigkeit der Achtziger nicht mehr einstellen.
    Gerhard nippte an seinem Espresso und horchte: Gerade jetzt liefen
im Radio Achtziger-Jahre-Songs rauf und runter. Spaßmusik wie ABC gefolgt von der unterkühlten Clubmusik
von Sade. Und das junge Mädel an der Tanke, das vielleicht neunzehn war, hatte
auch wieder eine Dauerwelle. Schmerzlich nahm Gerhard wahr, dass das
deplatziert wirkte. Die Zeit des »Smooth Operator« war um, die

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