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Weinzirl 04 - Gottesfurcht

Weinzirl 04 - Gottesfurcht

Titel: Weinzirl 04 - Gottesfurcht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicola Förg
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ein bisschen
geglättet, aber sonst?
    »Willkommen bei den
Lebenden. Du hast mich beschimpft, als ich dich wecken wollte.«
    Gerhard hatte keine
Ahnung, ob das stimmte, Schlaf war bei ihm immer etwas Todesähnliches. »Tut mir
Leid.«
    Jo starrte ihn an.
»Und jetzt? Einsatz?«
    »Ja, kann ich dich
hier allein lassen? Ich komme hoffentlich bald wieder. Äh, fahr bitte nicht
weg.«
    »Deine Frau kann gar
nicht fahren, sie hat noch Restblut im Alkohol«, polterte jemand. Lachen,
Himmel, das war alles so laut.
    Gerhard stürzte
einen zweiten Kaffee hinunter und ein großes Glas Leitungswasser, das ihm die
Rote Zora hingestellt hatte. Zwei Aspirin hatte sie ihm vorsorglicherweise auch
in die Hand gedrückt.
    Jo sah ihm zu. »Hau
ab, gib mir den Schlüssel zu deiner Wohnung. Ich warte dort.«
    »Das ist etwas
kompliziert zu finden.«
    »Wohl kaum
komplizierter als der Weg nach Göhlenbühl?«
    Das stimmte, und
Gerhard beschrieb ihr den Weg.
    »Na also! Zieh
hinaus und rette die Welt. Möge die Macht mit dir sein!« Jo lachte, die anderen
lachten, Gerhard fühlte sich ausgeschlossen.

10
    Draußen fuhr ein
Auto vor. Er gab Jo einen ungeschickten Kuss auf die Wange, den sie huldvoll
entgegennahm. Dann ging er hinaus. Autsch, war das hell!
    Baier schaute ihn
kurz prüfend an. »Sie haben Wasser getrunken«, sagte er tadelnd.
    »Ja?«
    »Falsch, Weinzirl,
ganz falsch. Auf zu viel Medizin nie Wasser trinken. Das wirft sie um Stunden
zurück. Da reicht schon das Wasser beim Zähneputzen.«
    Gerhard ließ sich zu
einem ächzenden Laut hinreißen. Das waren Tage, um die er zurückgeworfen war.
    Baier lachte, und es
klang diesmal nicht wie ein Pitbull. Er lachte richtig menschlich. Gleich
hinter dem Blumen Ferchl stieg die Straße steil an. Es war hell geworden, ein
Bilderbuch-Wintertag kündigte sich an. Die Ammergauer Alpen hoben sich scharf
und klar gegen den Morgenhimmel ab.
    »Ich war noch nie
hier, schön hier heroben.« Gerhard testete mal seine Stimme. Er klang wie Joe
Cocker und Gianna Nannini in Personalunion, aber sie funktionierte. Na also.
    »Sag ich doch,
abseits der Hauptstraße ist Peißenberg nicht ohne. Ich bin in Peißenberg
geboren. Meine Frau wollte nie hier wohnen. Zu proletarisch, ihr Urteil. Stimmt
aber nicht. Peißenberg, das ist Boxen und Bergbau. Das sind echte Menschen,
keine Zlausis. Echte Menschen, echte Probleme. Jede Familie hatte hier direkt
oder indirekt mit dem Bergbau zu tun. Mein Großvater, mein Vater, ich auch: Wir
alle waren Kumpel. 1971 war Schluss. Schicht im Schacht, Weinzirl. Alles, was
Identität gestiftet hatte, war verloren. Davon erholt man sich vielleicht nie,
oder erst in einer der nachfolgenden Generationen. Mein Kumpel, das Blauauge,
wie Sie ihn nennen, war einer der letzten. Er fuhr den größten Radlader der
Welt, einer, in dessen Schaufel ein VW -Bus
wenden konnte! Er verteilte den Abraum und glättete sozusagen noch die Neue
Bergehalde, bis auch er im September ‘72 endgültig einen neuen Job antreten
musste. Wussten Sie, dass hier sogar »Raumpatrouille Orion« gedreht worden
ist?«
    Gerhard schüttelte
den Kopf. Er überlebte das Schütteln und dankte der Roten Zora im Geiste für
die Aspirin.
    Baier wies nach
rechts. »Da drüben ist die Knappenkapelle. Ich bin im Knappenverein. 1996 haben
wir sie eingeweiht. Haben wir in Eigenregie gebaut. Als Erinnerung an die
zweihundertzweiundsechzig verunglückten Bergleute. Der Altar ist ein
Grubenhunt, die Lampen sind Grubenlampen, die Fenster zeigen Bergmannsmotive.«
    Es klang wehmütig,
und Gerhard registrierte einen ganz neuen Zug an seinem bulligen Kollegen. Auch
bemerkte er, dass Baier für Peißenberg mehr Worte fand als für alles andere.
    »Weilheim, Weinzirl,
Herrschaft Zeiten, das ist doch gähnend langweilig, und in Murnau gibt’s zu
viel Münchner und Kunstschickeria. Aber sagen Sie so was mal meiner Frau.
Wissen Sie, Weinzirl, wir Peißenberger sind ein bisschen schizophren. Wir sind
stolz, und gleichzeitig entschuldigen wir uns unentwegt für unsere lange
Hauptstraße, für den Leerstand im Rigi Center, für unsere Existenz. Ich glaube,
Sie sind auf dem besten Weg, Peißenberg zu verstehen. Diese schwarze
Bergmannsseele. Sie müssen nur Toni die Treue halten.«
    Der Baier wurde ja
richtig philosophisch, fast lyrisch, dachte Gerhard. Und während er sich Baiers
Plädoyer für Peißenberg angehört hatte, waren sie wieder bergab gefahren. Da
stand nun der große Findling. Die Szene, die sich ihnen bot, war

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