Weinzirl 04 - Gottesfurcht
Einfälle, wie er mit
dieser sonderbaren Frau umgehen sollte, bei Frau Kassandra erprobte. Den
sarkastischen Kotzbrocken hatte er jetzt lange genug gegeben. »Ich hätte auch
lieber mehr Muskeln«, schickte er hinterher. Himmel, wieso sagte er so was?
Sie runzelte die
Stirn. »Wollen Sie ein Bier? Oder Wein oder ‘nen Ramazotti?«
»Bier!«
»Dachs-Weißbier oder
Augustiner?«
»Dachs!«
Sie schenkte ihm
sein Weißbier formvollendet ein. Sie selbst kippte sich Chianti in ein Senfglas
und sah ihn fragend an. »Und was kann ich jetzt für Sie tun, Herr Weinzirl? Die
Zukunft? Voodoo?«
Gerhard wiegte den
Kopf hin und her. »Also, liebe Frau Kassandra, in diesem Outfit, das Sie jetzt
tragen, haben Sie so gar nichts Mystisches. Die Zukunft, ich weiß nicht. Wem
sitze ich eigentlich gegenüber? Und wer ist der?« fragte er, weil sich ungefähr
sieben Kilo Katze gerade auf seinem Schoß niederließen.
»Sie trinken gerade
ein Bier in der Küche von Anastasia Tafertshofer. Der ist Kater Holbein. Auch
der Ältere.«
»Ihr Schweigen zeigt
mir, dass Sie den Punkt verstanden haben. Als Anastasia Tafertshofer schaut es
schlecht aus mit Esoterischem, Übernatürlichem.« Sie seufzte. »Sehen Sie, ich
bin das, was man eine gescheiterte und tragische Existenz nennt. Medizinstudium
abgebrochen, Psychologie auch. Statistik hat mich getötet. Das Tragische dabei
war, dass mich die Materie wirklich interessiert hat. Ich habe dann diverse
Kurse in Homöopathie und Heilkunde besucht. Alles ganz seriös. Es ist wirklich
extrem schade, dass so viel Wissen um die ganzheitliche Medizin verloren
gegangen ist. Na ja, ich habe dann ‘ne kleine Praxis eröffnet, aber der Zulauf
war marginal. Ich war zu normal.«
Gerhard zeigte seine
Dackelfalten.
»Ja, das glauben Sie
mir jetzt nicht! Wundern Sie sich nur. Aber ich habe mich neu inszenieren
müssen. Schauen Sie: Als ich mit meiner Praxis begonnen hatte, war ich
überzeugt, dass der Mensch Teil der Natur ist, dass jedes Tier und jede Pflanze
beseelt ist. Und je weniger wir das begreifen und zulassen, desto mehr verirren
wir uns. Die Seele ist keine Funktion des Gehirns, sie speichert Erlebnisse im
Körper. Man muss sich Erlebnissen aussetzen. Meine Rezepte waren pragmatisch: Wann sind Sie zum letzen Mal auf einen Baum geklettert? Wann sind Sie barfuß in
der Mittagspause durch den Park gelaufen? Wann haben Sie in einer Wiese gelegen
und Erde gerochen? Wann an einer Blume gerochen? Wer barfuß läuft, kriegt seine
Reflexzonenmassage umsonst, und wer an Blumen riecht, braucht keine
Aromatherapie. Aber das wollten die Leute nicht hören. Zu einfach! Da gibt es
am Kamp in Österreich diesen Dungl. Der lässt die Gäste in der Frühe Tau
treten. Und nennt das dann ›angstfrei erwachen‹. So was zieht! Und teuer muss
es sein.«
Die Frau begann
Gerhard zu gefallen. »Gesunder Menschenverstand ist nicht eben weit
verbreitet«, sagte er.
»Sie haben auch
diesen Punkt begriffen. Die Menschen wollen Lebenshilfe-Bücher wie ›Zehn
Schritte zur Glückseligkeit‹ und brauchen einen Coach. Und wenn der versagt,
suchen sie den nächsten und so weiter.«
»Und da haben Sie
auch angefangen, Brimborium zu machen?«
»Ich habe mich für
einen Mittelweg entschieden. Da muss ich Ihnen aber vorher noch was erzählen.
Im Oktober 2000 war ich auf der internationalen Schamanen-Konferenz in
Garmisch. Es sollte um nicht weniger gehen als um Heilung der Erde.
Verschiedene kommerzielle Organisationen warteten mit ihren Schamanen auf, und
die machten irgendwas Irres und das in einem hermetisch abgeriegelten Gebäude
aus Glas und Zement. Auch Georg Elkshoulder, der Hüter der Cheyenne-Tradition,
war da, sichtlich befremdet. ›Was soll ich tun?‹, fragte er. ›Segne sie
wenigstens‹, bat ihn ein Freund, der ihn mitgebracht hatte. Er ließ sich einen
glühenden Zunderschwarm geben, streute darauf einige Krümel des Wacholders.
Dann nahm er die Feder, die er einst einem lebenden Adler entrissen hatte, und
ließ sich windende Kringel blauen Rauchs über der Menge aufsteigen. Absolute
Stille im Saal. Ich hatte nie wieder so ein starkes Gefühl der Heiligkeit.
Gänsehautgefühle, Glücksgefühle, das Gefühl, auserwählt zu sein und
unverwundbar. Heiligkeit, ja, trotz des Kunstlichts und des Betons. Eigentlich
war mit dieser Segensgeste alles gesagt, alles getan. An der Stelle hätten wir
alle gehen können, gehen müssen! Aber moderne Menschen sind Konsumenten. Eine
Frau brach das Schweigen. ›Können Sie uns
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