Weinzirl 04 - Gottesfurcht
erzählte, klang gewaltiger als alles, was Karli sich vorstellen konnte. Sie
war zweiundzwanzig Jahre alt und hatte zwei Kinder, ihr Mann war bei einem
Grubenunglück gestorben. Sie sprach davon, als gehöre diese Geschichte zu einem
fremden Leben, nicht zu ihrem. Hansl hatte am Abend irgendwoher Bierflaschen
mit Bügelverschluss aufgetrieben und verteilte die Literflaschen großzügig. Es
dämmerte bereits, als die Göttin Karli fragte: »Krieg ich einen Schluck?«
Wortlos reichte er
ihr die Flasche. Sie hakte sich bei ihm ein, und er ging los, mechanisch, aber
doch so, als hätte er Jahr und Tag nichts anderes getan als einer Dame den Arm
gereicht. Sie schlenderten zur Turnhalle und retour, dann umrundeten sie das
Rondell, eine Baumgruppe, die aus dem verwunschenen Garten einen gewollt
geplanten Landschaftsgarten machte. Der Herbst kündigte sich an, Feuchtigkeit
kroch aus dem Wald. Die Göttin fröstelte. Gewandt legte er ihr seinen
Strickjanker um die Schulter, nun war er Herr der Lage. Er war ein Mann! Sie lächelte
ihn dankbar an. »Es wird schnell frisch bei euch in Bayern.«
»Das liegt auch
daran, dass der Grundwasserspiegel sehr hoch liegt. Der Schönsee war früher
viel größer. Das hier war alles See.«
»Was du alles
weißt!« Sie drückte sich fester an ihn.
Karlis Herz war am
Zerbersten. Sie bewunderte ihn. »Ich zeig dir noch was.« Sie gingen auf dem
Zufahrtsweg, und rechts des Weges deutete er auf einen kleinen Hügel. »Siehst
du den?«
Sie nickte.
»Das ist ein
keltisches Hügelgrab.«
»Wirklich?« Ihre
braunen Augen waren rabenschwarz. »Woher weißt du das?«
»Ich weiß es. Die
Kalten fressen da nicht. Sie spüren das. Ich spüre das auch.«
»Die Kalten?«
»Die Oberländer
Rösser. Pferde sind sensibel.«
»Aber dann müsst ihr
graben. Vielleicht sind Schätze darin.« Sie lachte glockenhell und
herausfordernd.
»Es ist ein Grab.
Man darf die Ruhe der Kelten nicht stören. Niemands Ruhe soll man stören!«
Da wandte sie sich
plötzlich zu ihm um, schlang die Arme um seinen Hals und küsste ihn. Er küsste
sie zurück. Seine Zungenspitze fand die ihre. Die Welt hatte aufgehört, sich zu
drehen.
Als sie sich
voneinander lösten, sagte sie: »Du bist so anders als er. Du bist so gut und so
jung. Viel zu jung.«
Er verstand sie
nicht, aber er wollte auch nur an den Kuss denken. Wenige Tage später reiste
sie ab mit dem Versprechen, zu schreiben. Sie schrieb tatsächlich, er auch.
Kurze, seltsam distanzierte Briefe über Alltäglichkeiten, die ihm doch so intim
vorkamen. Einen ganzen Winter lang. Die Briefe gingen an Hansls Adresse. Nach
Hause hätten sie nie kommen dürfen.
*
Gerhard
stammte selbst vom Lande. Aus einem kleinen Dorf. Schlagartig wurde ihm
bewusst, dass er sich nie für die Vergangenheit interessiert hatte. Seine
Eltern hatten auch nie etwas erzählt vom Leben in den fünfziger Jahren. Hier
aber, im Wohnzimmer der Albrechts, spürte Gerhard zum ersten Mal, mit welcher
gewalttätigen Macht die Vergangenheit ins Hier und Jetzt hereindrängte. Anna
Albrecht hatte also Johann Draxl gern gesehen. Draxl, der tot war. Und ihr
Bruder war ein Mörder? Es fiel Gerhard fast ein bisschen schwer, den Faden
wiederzufinden. So viele Gedanken wirbelten unsortiert durch seinen Kopf.
»War sie nun die
Geliebte von beiden?«, fragte Gerhard schließlich.
»Ich kann nur
spekulieren. Ich glaube, sie hatte Sex mit meinem Vater und ein klares Ziel.
Sie wollte Geld. Sie mochte meinen Bruder, glaube ich zumindest. Er hat sie
geliebt. Ich denke, rein platonisch. Das war eine andere Zeit, schon
Händchenhalten war der Gipfel aller erotischen Phantasie bei einem
Sechzehnjährigen.«
Sie war aufgestanden
und zu einem schönen alten Bauernschrank gegangen. Sie kramte in einer Kiste
und förderte ein Foto zu Tage. Ein Gruppenbild von 1956. Im Hintergrund stand
das dreistöckige Gebäude. Aha, dieses Mütterheim. Davor junge Menschen, kecke
Gesichter, hoffnungsfrohe Mienen.
Sie begann, die
Personen zu erklären: hinten Paul Matzke, der sommersprossig gewesen war und
dem eine dunkle Haarsträhne ins Gesicht hing. Daneben Georg Kölbl.
Bleistiftdünn, mit einer spitzen Nase. Gerhard kam es wie Spannertum vor. Er
hatte beide Männer im Angesicht des Todes gesehen. Schwere Männer, deren Augen
vom Teufel erzählt hatten. Fünfzig Jahre waren zwischen den beiden Bildern
vergangen, ein halbes Leben zwischen den hoffnungsvollen Jungen und dem
grausamen Antlitz des Todes. In der Mitte war der
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