Weinzirl 04 - Gottesfurcht
den niemand wirklich lange gesucht hatte.
Das Dorf nicht, die Kirche nicht, »… dann spricht viel dafür, dass Karl
Laberbauer, der vierte Mann, seine ehemaligen Freunde ermordet hat. Warum aber,
nach all den Jahren?«
»Wenn, wenn, wenn!«
Baier bellte und knurrte, als schnüre ihm eine Kette den Hals ab. »Verrennen
wir uns da nicht? Was ist mit den erpresserischen Schnitzern? Auch wenn sich
Hareithers Fingerabdrücke nicht decken?«
»Wir verfolgen beide
Spuren«, sagte Gerhard, als sein Apparat klingelte. Es war der Nachfolger jenes
Mannes, der die Besserungsanstalt geleitet hatte, in der Karl Laberbauer zehn
Jahre eingesessen hatte. Gerhard hatte um Rückruf gebeten, und der Mann hatte
in alten Akten gewühlt und war fündig geworden: Karl Laberbauer war der
gewesen, der fast nur geschwiegen hatte und gelesen. Unendlich viel gelesen.
»Was hat er denn so
gelesen?«, fragte Gerhard.
»Geschichtsbücher
und Volkskunde. Viel über die Kelten. Den Keltenforscher haben sie ihn genannt.
Er muss ein gewaltiges Wissen angehäuft haben. Er soll ein kluger Bursche
gewesen sein. Intelligenz kann eine Bürde sein. Er muss manchmal sehr
aufbrausend gewesen sein, aber meistens hat er anscheinend gar nicht geredet.
Das haben Sie ja oft: junge Menschen, in denen es brodelt und tost, aber er hat
nichts rausgelassen. Seine Art, damit umzugehen.«
Die männliche Art,
damit umzugehen, dachte Gerhard. Verdrängen. Aber Lava, die brodelt, dringt
irgendwann doch an die Oberfläche. Bei Vulkanen konnten Erdzeitalter vergehen,
aber bei Menschen? Wie viel Zeit musste da vergehen?
Auf einmal durchfuhr
Gerhard eine Idee. »Haben Sie Fingerabdrücke von damals? War es üblich, von
jugendlichen Tätern Fingerabdrücke zu nehmen?«
Der Mann war sich
unsicher, versprach aber, nachzuforschen und sich zu melden.
Gerhard erzählte das
eben Gehörte Baier. »Was machen wir jetzt mit dem Pfarrhaus?«
»Weinzirl, ich weiß
nicht, ob ich das Okay geben kann. Ist doch Irrsinn. Wir entscheiden morgen! Ich
versuche jetzt mal, mehr über die beiden anderen Schnitzer Lutz und Korntheurer
rauszukriegen.«
Gerhard nickte und
sah Baier hinterher, der den Raum verließ. Ein Gedanke hatte sich in seinem
Kopf festgesetzt. Männliches Verdrängen, die Lava unter der Oberfläche. Was für
eine Tragödie, wenn ein junger Mann wirklich unschuldig verurteilt worden war
und dann den Vater und den Pfarrer umgebracht hatte. Und was hatte das mit
seinem aktuellen Fall zu tun? Er brauchte Hilfe, Hilfe von außen. Gerhard griff
zum Hörer.
»Marakala!«, sagte
die Stimme.
»Hallo!«
»Heh, du rufst ja
wirklich an?«
»Ja, hab ich doch
gesagt. Kannst du dich mit mir in Huglfing beim Anzinger treffen, gegenüber vom
Bahnhof?«
»Sicher. Wann?«
»Jetzt?«
»Bis gleich.«
Sie kam kurz nach
Gerhard an. Sie stellte keine Fragen. Gerhard war froh, sie zu sehen, ohne
erklären zu können, warum. Aber er war froh. Er küsste sie auf beiden Wangen.
»Kannst du einfach
mitkommen und mir erzählen, was du fühlst?«
»Sicher.«
Sie ließen ihre
Autos beim Anzinger stehen. Plinius war ordentlich angeleint. Auch eine Kneipe,
die ihm Baier ans Herz gelegt hatte. »Sensationelle Frau, die Wirtin. Eine gute
Haut«, hatte er gesagt.
Sie gingen über
einen Feldweg auf das Evangelische Gemeindezentrum zu und linsten durch die
Glasfenster. Parkettboden, ein schmuckloser Altar auf der einen Seite, ein
Klavier auf der anderen. Bilder drängten sich heran von drittklassigen
Ballettschulen, wo ein abgetakelter Pianist in die Tasten des verstimmten
Schimmel griff und eine russisch anmutende verhärmte dürre Ballerina in den
hohen Siebzigern kleine Ballettelevinnen triezte. In dem Raum dort fehlten nur
die Stangen an den Wänden. Gerhard wusste, dass das einst die Turnhalle des
Mütterheims gewesen war, und diesen Charme versprühte sie heute als Kirche noch
immer. So sehr er noch vom Gespräch mit Anna Albrecht aufgewühlt war, so sehr
er den Popanz der katholischen Kirche zu hassen meinte, so sehr war er doch
auch von deren Seelenfängertricks beeinflusst. Zum Himmel strebende
Architektur, kühne Statik, all der Stuck in Rosé und Gelb, Säulen, die
abtrennten und doch verbanden, die trügerische Räume schufen. Lichtspiele in
bunten Fenstern, goldene Kanzeln, Schnitzwerk, Fresken so opulent, all diese
mittelalterlichen Comics an Wänden und Kuppeln – Kirchen waren große Verführer.
Und gerade hier im Pfaffenwinkel war es umso greifbarer. Klar, Kempten hatte
die
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