Weiskerns Nachlass
wieso dieser Mann in seinem Büro säße. Mit leiser Stimme, er flüsterte nun fast, sagte er: »Ich habe mich entschieden, Herr Stolzenburg, ich wiederhole mich nicht gern. Sie haben meine Bestellung, heben Sie das Papier gut auf. Das sind ein paar tausend Euro, Stolzenburg, die Sie in der Hand halten. Ich rechne mit einer fünfstelligen Zahl, die ich Ihrem Verleger hinblättern werde. Es war mir ein Vergnügen. Und ich hoffe, ich höre von Ihnen. Ich erwarte, dass Sie mein Geschenk einlösen. Danke für Ihren Besuch. Meine Sekretärin hat noch eine Tüte für Sie. Ich habe ein paar Bücher heraussuchen lassen, die Sie vielleicht lesen wollen. Leben Sie wohl und bleiben Sie unserem Weiskern treu.«
Ohne aufzustehen, reichte er Stolzenburg die Hand und griff, noch bevor der Gast den Raum verlassen hatte, zum Telefon und forderte einen seiner Angestellten schroff auf, umgehend bei ihm zu erscheinen. Stolzenburg nickte ihm an der Tür nochmals zu und verließ lautlos das Zimmer.
Seine Fahrt zu dem Frankfurter Verlag lag mittlerweile zwei Jahre zurück. Er hatte Jürgen Richter in größeren Abständen Briefe geschrieben, ihm mitgeteilt, welche Funde er gemacht habe und wie weit seine Forschungsarbeit gediehen sei. Und jedes Mal endeten seine Briefe mit dem Hinweis, er habe noch keinen Verleger gefunden. Er schrieb ihm, weil er noch immer hoffte, diesen Verleger für die Weiskern-Ausgabe zu gewinnen, doch Richter hatte ihn nie einer Antwort gewürdigt, und langsam machte er sich mit dem fatalen Gedanken vertraut, dass der einzige Verleger in diesem Land, dem der Name Weiskern wirklich vertraut, der ihn kannte und durch die eigene Biographie mit ihm verbunden war, die große Gesamtausgabe nicht in sein Programm aufnehmen würde. Richters Kaufverpflichtung, den Bogen mit dem Briefkopf des Verlags und der Unterschrift von Richter, hat er sorgfältig abgelegt und betrachtet ihn ab und zu, wenn ihm seine Weiskern-Arbeit allzu absurd und aussichtslos erscheint. Eine Kopie dieser ungewöhnlichen Erklärung, von einer in den Sternen stehenden Ausgabe, die gewiss mehrbändig sein würde und sehr teuer, hundertfünfundzwanzig Exemplare zu erwerben, hatte in den Verhandlungen mit Lektoren und Geschäftsführern anderer Verlage Erstaunen oder anerkennendes Verstummen hervorgerufen, doch konnte sie keinen Verleger dazu verführen, sich auf ein solches unternehmerisches Abenteuer einzulassen.
Er war Weiskern treu geblieben. Noch immer sucht er Archive auf, durchforscht Kirchenbücher und korrespondiert mit Wissenschaftlern, Publizisten, verschrobenen Hobbyarchivaren und misstrauischen oder vollkommen uninteressierten Nachfahren des Schauspielers und Autors aus Eisleben, um unentdeckte Schriften und Briefe aufzustöbern oder Hinweise und Informationen, um weitere Teile zu jenem Puzzle zu erhalten, mit dem er ein facettenreiches Gesamtbild des außerordentlichen und in Wien äußerst erfolgreichen Sachsen schaffen wollte, das die Herausgabe der Schriften von Weiskern vollenden und abrunden sollte. In seinem Arbeitszimmer hängt ein plakatgroßes Diagramm, auf dem in einer wilden Anhäufung von Strichen und Kurven der Stammbaum der Weiskerns dargestellt wird und auf dem die Namen und mühselig eruierten Jahreszahlen seiner Freunde, der Bekannten, seiner Arbeitgeber und Kollegen verzeichnet sind, der Bühnen, auf denen Weiskern aufgetreten war, und der Gasthäuser, in denen er nächtigte, als er für seine niederösterreichische Topographie durch das Land gereist war. Jeder noch so kleine Hinweis hatte auf dem Diagramm einen winzigen Platz gefunden, so dass dieser riesige Bogen, der ihm behilflich sein und einen Fahrplan für seine weiteren Forschungen abgeben sollte, inzwischen selbst ihn verwirrte und eher an ein irritierendes Kunstwerk eines abstrakten Postmodernen erinnerte als an die pedantische Genealogie eines Chronisten oder die Konkordanz eines Forschers. Was als Übersichtstafel und Logbuch angelegt war, hatte sich im Verlauf der Jahre verselbständigt, und Stolzenburg erwog bereits mehrmals, für diese Gedenktafel seiner Forschungen ein gesondertes Verzeichnis anzulegen, um sich auf dem eigenen Blatt zurechtzufinden. Seinen Freundinnen und den wenigen Besuchern, die sein Arbeitszimmer betraten und vor dem Diagrammverwundert stehenblieben, erklärt er mittlerweile, es sei die Arbeit eines Malers aus Eisleben, den er vor einigen Jahren kennengelernt habe. Für dieses Kunstwerk habe er eine nicht unerhebliche Summe bezahlen
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