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Weiskerns Nachlass

Weiskerns Nachlass

Titel: Weiskerns Nachlass Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Hein
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öffnet ihn und zieht ein mehrseitiges Computerformular hervor, das ihm auf den ersten Blick nichts sagt, bis er das einzelne fettgedruckte Wort Forderung liest. Auf dem dritten Blatt findet er die Summe, die er innerhalb von vierzehn Tagen dem Finanzamt zu überweisen habe, elftausendvierhundertvierundvierzig Euro und vierundsiebzig Cent. Ihm bricht augenblicklich der Schweiß aus, und er muss sich zurücklehnen, das Blatt wirft er auf den Tisch. Dann nimmt er das Schreiben wieder in die Hand, überzeugt, es müsse sich um einen Irrtum des Finanzamtes handeln, eine Namensverwechslung, einen Computerfehler. Er zwingt sich, den Brief langsam zu lesen, doch er versteht diese Sprache nicht. Er nimmt das Telefon und wählt die angegebene Nummer. Nach dem ersten Tonzeichen meldet sich eine Automatenstimme, die ihm die wöchentlichen Dienstzeiten des Amtes nennt, er ruft zu spät an. Er legt das Schreiben des Finanzamtesbeiseite, er will sich am nächsten Tag darum kümmern, aber nach wenigen Minuten greift er wieder danach, da ihn die Forderung derart beunruhigt, dass er an nichts anderes denken kann. Wenn er den Brief richtig liest, so ergibt sich die vom Finanzamt geforderte Nachzahlung aus einem Berechnungsfehler der letzten zehn Jahre. Seine Honorare seien von ihm fälschlich mit dem niedrigen Mehrwertsteuersatz deklariert worden, was ungesetzlich war und die Nachforderung erzwinge, die er innerhalb von vierzehn Tagen zu leisten habe. Stolzenburg muss sein Bankkonto nicht aufrufen, er weiß, er hat das Geld nicht, er lebt seit Jahren von der Hand in den Mund. Am Ende eines jeden Monats verbleibt gelegentlich ein kleiner Rest, den er auf dem Konto stehen lässt, aber das ist selten, und die Summen sind lächerlich.
    Den größten Luxus, den er sich leistet, ist – neben dem Weiskern-Projekt – eine Lebensversicherung, für die er seit Jahrzehnten einzahlt, aber er weiß, er darf diese Versicherung keinesfalls aufkündigen. In einigen Jahren, spätestens an seinem fünfundsechzigsten Geburtstag, wird er die halbe Stelle verlieren, und da in den letzten Jahren die Aufträge der Redaktionen von Zeitschriften und Rundfunksendern stetig zurückgegangen sind, sie ihn immer seltener um Beiträge bitten, er ist unschlüssig, ob es an den allgemeinen Einsparungen liegt oder sie jüngere Leute vorziehen, muss er sich darauf einrichten, mit seiner erbärmlichen Rente auszukommen und nicht mehr mit zusätzlichen Honoraren zu rechnen. Er darf, so schwer es ihm auch fällt, die Lebensversicherung nicht aufgeben, und er sieht keine Möglichkeiten, sich noch weiter einzuschränken. Er geht selten aus, vermeidet teure Restaurants, leistet sichBücher nur, wenn es unumgänglich ist, und nutzt die Bibliothek im Institut und die Stadtbücherei. Er achtet auf die Sonderangebote der Supermärkte, und ein neues Hemd oder eine Hose legt er sich selten zu, das Vorhandene muss ausreichen. Bei Strom und Wasser kontrolliert er seit Jahren den Verbrauch und redet sich ein, er tue dies vor allem aus ökologischen Gründen. Sein Auto ist über vierzehn Jahre alt, er hat es gebraucht gekauft und wird es erst verkaufen, wenn ihm die Reparaturen zu teuer kommen. Vor vier Jahren fing er sogar an, ein Haushaltsbuch zu führen in der unsinnigen Hoffnung, etwas zu entdecken, was man einsparen könnte.
    Er geht in die Küche, um die eingekauften Lebensmittel in den Kühlschrank und die winzige Speisekammer zu räumen. Den kleinen Kunststoffpropeller bringt er auf den Balkon und steckt ihn in die Erde eines der beiden Balkonkästen. Behutsam dreht er den Holzstab, bis sich der Propeller langsam zu bewegen beginnt.
    Am nächsten Morgen ruft er eine Minute nach neun im Finanzamt an und ist zu seiner Überraschung sofort mit dem zuständigen Beamten verbunden. Er sagt ihm mehrmals, dass er dieses Amtsdeutsch nicht lesen könne und die Forderung nicht verstehe, er habe jahrelang an das Finanzamt gezahlt, was immer es verlangt habe. Der Beamte erläutert ihm geduldig den Brief und versichert ihm, die Nachzahlung sei von ihm persönlich nachgeprüft worden und bestehe zu Recht, er habe innerhalb der genannten Frist das Geld an das Amt zu überweisen, da ansonsten Versäumnisgebühren fällig werden. Von einer Verjährung könne in seinem Fall keine Rede sein, da das Amt grundsätzlich lediglich jene Jahre überprüfe, in denen Forderungen noch durchsetzbar seien.
    »Ich habe das Geld nicht«, sagt Stolzenburg, »ich habe keine elftausendvierhundertvierundvierzig

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