Weiskerns Nachlass
müssen, aber er wollte dieses Blatt, das er ihnen mit dem Titel »Weißer Kern« vorzustellen pflegt, unbedingt in seinen Besitz bringen, da es ihn vom ersten Augenblick an fasziniert habe. Mit andächtigem Schweigen reagiert man auf seine Erklärungen und starrt, mit dem Wissen um ein teures Kunstwerk, nochmals beeindruckt auf das Wirrwarr der Striche und Kurven. Stolzenburg ist es zufrieden, da er damit der Misslichkeit enthoben ist, über Weiskern zu sprechen und seine jahrelangen Forschungen, und er nicht erklären muss, wieso er jahrelang an einer Arbeit sitzt, die wohl nie erscheinen und die keiner honorieren wird.
Sechs
Im Briefkasten findet er eine Benachrichtigung der Post. Man habe versucht, ihm ein Einschreiben zuzustellen, ihn jedoch nicht angetroffen, das Schriftstück liege in seinem Postamt zur Abholung bereit. Er ärgert sich, denn er war den ganzen Tag über daheim. Der Bote hatte gar nicht versucht, ihm das Schreiben zu übergeben, sondern den rötlichen Vordruck über eine nicht zustellbare Sendung eingeworfen, um seine Tour eher beenden zu können. Stolzenburg wirft einen Blick auf die Uhr, die unbekannte Sendung muss bereits auf dem Postamt lagern, und er entscheidet sich, dorthin zu fahren, um das Einschreiben abzuholen und danach im Supermarkt etwas zum Essen und zum Trinken einzukaufen.
Die Fahrradwege sind mit parkenden Autos zugestellt, mehrmals muss er auf den Fußweg oder auf die Autospur ausweichen. Hinter dem Blumenladen der beiden kleinen Vietnamesinnen ist er zum abrupten Bremsen gezwungen, eine Frau mit einem Kinderwagen kreuzt seinen Weg und bleibt unvermittelt stehen, da ihr wütend schreiendes Kind alles Mögliche aus dem Wagen wirft und er einer Rentnergruppe wegen nicht auf den Fußweg ausweichen kann. Die junge Frau sammelt das Spielzeug ein und verstaut es im eingehängten Netz des Wagens. Stolzenburg ist vom Rad gestiegen und wartet. Die junge Frau nimmt das laute Heulen und Kreischen ihres Kindes hin, hebt wortlos die weiterhin auf denBürgersteig fliegenden Gegenstände hoch und stopft sie in das Netz. Als ihr Kind nichts mehr zum Hinauswerfen findet und mit dem Kopf gegen die Seitenwand hämmert, schiebt sie den Wagen weiter und gibt den Weg frei. Stolzenburg will auf sein Rad steigen, als er ein übersehenes Spielzeug auf den Steinplatten entdeckt, einen bunten Kunststoffpropeller an einem Holzstab. Er bückt sich nach dem Spielzeug, hält es in die Höhe und blickt sich nach der Frau um. Er sieht sie mitsamt Kinderwagen und schreiendem Kleinkind in der Drehtür des Einkaufscenter verschwinden und verzichtet darauf, ihr hinterherzulaufen. Ein junges Mädchen lächelt ihn an. Als er sie verwundert anblickt, deutet sie auf den Propeller, den er noch immer hochhält. Das Plastikkreuz mit den bunten Streifen dreht sich langsam im Wind, die Farbstreifen zeichnen sich nun als rotierende, regenbogenfarbene und ineinander verlaufende Kreise ab. Für einen Moment schaut er dem sich drehenden Kinderpropeller zu, dann in Richtung des jungen Mädchens, doch sie ist bereits weitergegangen. Er stellt den Propeller in seinen am Lenker befestigten Fahrradkorb, quetscht das Kettenschloss hinein, um den Stab notdürftig zu befestigen, und fährt weiter. Der kleine Propeller dreht sich heftig während der Fahrt, dann kippt der Stab zur Seite, das Kunststoffrad wird an die Klingel gedrückt und zum Stehen gebracht.
Im Postamt muss er warten. Wie immer ist nur einer der vier Schalter besetzt, und die Postbeamtin erklärt einem alten Ehepaar, wie es den Geldautomaten zu bedienen hat. Sie kommt nach vorne und geht mit dem Paar in den Vorraum, um ihm zu zeigen, welche Tasten es zu bedienen hat. Die anderen Leute in der Schlange wartenmit grimmigem Schweigen, Stolzenburg ist nervös, doch amüsiert beobachtet er die gelangweilten oder unwilligen Mienen und Gesten der Wartenden vor ihm. Als er vor der Beamtin steht, muss er seinen Ausweis vorlegen und den Empfang quittieren, dann händigt sie ihm zu seiner Überraschung einen Brief vom Finanzamt aus. Als er sich auf sein Rad setzt, ist er zunächst versucht, den Brief sofort aufzureißen. Ihn irritiert, dass ihm das Finanzamt einen eingeschriebenen Brief schickt, und er fürchtet eine schlechte Nachricht, doch dann wirft er den verschlossenen Brief in den Fahrradkorb und fährt zum Supermarkt, um die Lebensmitteleinkäufe wie geplant zu erledigen.
Daheim stellt er den Korb in die Küche und setzt sich mit dem Brief an seinen Schreibtisch,
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