Weiskerns Nachlass
vorbeibringen. Oder besser, schick sie mit der Post.«
Sie dreht sich um und geht schnell durch die Tischreihen hindurch. Der Kellner, der im gleichen Moment mit den Tellern kommt, will sie ansprechen, aber sie weicht ihm aus und verlässt die Gaststätte.
»Die Dame kommt gleich zurück, oder soll ich die Pasta in der Küche warm halten?«
Stolzenburg braucht einen Moment, um die Frage zu begreifen.
»Nein«, sagt er dann, »stellen Sie es hin. Danke.«
Das war es also, sagt er zu sich, so schnell, so einfach. Er schaut aus dem großen Fenster der Gaststätte, aber draußen ist es dunkel, von Patrizia ist nichts zu sehen. Er zieht den zweiten Teller zu sich und stochert abwechselnd mit der Gabel in beiden Tellern. Er hat keinen Hunger, und es dauert fast eine Stunde, bis er beide Teller geleert und die Flasche ausgetrunken hat. Daheim schaltet er die Fernsehnachrichten an, dann ruft er Henriette an.
»Guten Abend, Henriette. Der Tisch ist rein. Er ist völlig sauber.«
Sie braucht einen Moment, bis sie ihn versteht.
»Und ich kann dir glauben?«
»Ich habe dir immer die Wahrheit gesagt, dir von Patrizia und den anderen Frauen erzählt, ich habe nichtsverschwiegen, nichts verheimlicht. Warum sollte ich jetzt lügen?«
»Und was erwartest du nun?«
»Glaube mir einfach, Henriette. – Wann können wir uns sehen? Morgen? Übermorgen?«
»Gib mir etwas Zeit. Ich ruf dich an.«
»Versprochen?«
»Versprochen, Rüdiger.«
Als das Telefon spät klingelt, es ist nach zehn, greift er sofort zum Hörer, er ist sich gewiss, dass Henriette nochmals anruft, dass sie es sich überlegt hat, dass sie ihn treffen will. Er ist enttäuscht, als sich eine andere Frauenstimme meldet.
»Grüß dich. Ich hoffe, ich rufe nicht zu spät an. Geht es dir gut?«
»Bitte?«
»Hier ist Judith. Ich hoffe, du erinnerst dich noch an deine Tochter.«
»Judith? Ja, ich habe eine Tochter, die Judith heißt. Das letzte Mal habe ich vor einem Jahr etwas von ihr gehört. Und gesehen habe ich sie, na, das ist sicher zwei Jahre her. Aber wenn Sie meine Tochter Judith sind, dann müssen Sie wissen, wann wir uns das letzte Mal gesehen haben.«
»Nun sei nicht gleich sauer, Papa. Ich weiß, dass ich mich bei dir hätte melden sollen. Aber ich habe wahnsinnig viel um die Ohren. Geht es dir gut?«
»Es geht.«
»Bist du noch immer an der Uni?«
»Ja. Bin ich.«
»Oh, das ist gut. Es ist doch gut, wenn man eine richtige Arbeit hat. Bei mir läuft es leider nicht so rund.«
»Das überrascht mich nicht, Judith. Du warst ja immer etwas, sagen wir, extravagant.«
»Kannst du nicht mal etwas Nettes sagen? Schließlich bin ich deine Tochter. Deine einzige, soviel ich weiß.«
»Ich habe es nicht vergessen, Judith. Aber ich glaube, du vergisst es ab und zu.«
»Nein, Papa, wir reden oft über dich. Sehr oft.«
»Wir? Du und deine Mutter?«
»Nein, mit Carlos, mit meinem Verlobten.«
»Du bist verlobt? Schön, dass ich es erfahre.«
»Ja, wir haben uns im Frühjahr in Argentinien verlobt. Wir waren bei der Familie von Carlos eingeladen. Reizende Leute, die würden dir gefallen.«
»In Argentinien? Wieso in Argentinien? Dein Verlobter stammt doch aus Mexiko.«
»Ach, Papa, das war José, der war Mexikaner, aber José ist lange her. Ich bin schon ewig mit Carlos zusammen, fast zwei Jahre.«
»Und Carlos kommt aus Argentinien? Was macht er?«
»Er ist Exportkaufmann, verstehst du. Kaufen und verkaufen, das ist sein Geschäft.«
»Ich verstehe. Und was kauft und verkauft er?«
»Eigentlich alles, Papa. Carlos sagt immer, für ihn ist kein Geschäft zu klein, wenn es nur Gewinn bringt. Hochseeschiffe und Büroklammern, er handelt mit allem.«
»Wie alt ist dein Carlos?«
»Ach, Papa. Er ist über vierzig.«
»Über vierzig? Was heißt das? Achtundvierzig, neunundvierzig?«
»Er ist vierundfünfzig, wenn du es so genau wissen willst. Aber ein toller Mann, süß und klug. Sehr klug.«
»Dann werde ich mich ja gut mit ihm verstehen, wir sind ja fast ein Jahrgang.«
»Sei nicht immer so ein Spießer, Papa. Wenn du ihn kennenlernst, wirst du begeistert sein.«
»Ich kann es kaum erwarten, Judith. Rufst du an, weil ihr mich besuchen wollt?«
»Nein, Papa, Ich habe ein Problem. Ich brauche deine Hilfe.«
»Ich hoffe nur, es geht nicht um Geld. Da kann ich dir keine Hilfe sein.«
»Papa, ich brauche dreitausend Euro. – Hallo, Papa, bist du noch am Apparat?«
»Dreitausend?«
»Ja. Es ist etwas schiefgelaufen, und wir haben Ärger.
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