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Weiskerns Nachlass

Weiskerns Nachlass

Titel: Weiskerns Nachlass Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Hein
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Carlos muss zehntausend auftreiben, viertausend haben wir selber und dreitausend bekommen wir von einem guten Freund. Kannst du uns den Rest geben? Es ist ja nur geliehen, nur vorübergehend.«
    »Dreitausend? O Gott, Judith. Woher soll ich dreitausend Euro auftreiben?«
    »Das wäre doch nur geliehen. Sobald Carlos wieder Land sieht, läuft das Geschäft wieder, dann fließt das Geld, und du bekommst deins zurück auf Heller und Pfennig.«
    »Ich habe das Geld nicht.«
    »Aber wir sind doch eine Familie. Carlos sagt, in einer Familie steht jeder für jeden ein, das würde er auch so machen. Er würde jede Summe für dich auftreiben, wenn du mal Geld brauchst.«
    »Schön zu hören, denn ich brauche gerade Geld. Elftausendvierhundert. Ganz genau elftausendvierhundertvierundvierzig. Wenn mir dein Carlos das Geld besorgenkann, wäre ich ihm sehr dankbar. Mich hat das Finanzamt am Kragen, und die lassen nicht mit sich reden.«
    »Hast du was angestellt, Papa? Irgendetwas Kriminelles? Toll! Das hätte ich dir nie zugetraut.«
    »Nein, es geht um eine Steuerschuld, die hat sich über zehn Jahre angesammelt und wird plötzlich fällig.«
    »Eine Steuerschuld, das ist nicht schlimm, Papa, da findet sich eine Lösung. Aber Carlos und ich brauchen das Geld sofort. Carlos muss frei kommen.«
    »Frei kommen? Ist er im Gefängnis, dein Verlobter?«
    »Ja, er ist im Gefängnis, und mich sperren sie auch ein, weil ich für ihn gebürgt habe. Aber das ging nicht anders, wir sind ja eine Familie, Carlos und ich.«
    »O Gott, was ist das für ein Kerl, dein Carlos? Er bringt dich ins Gefängnis?«
    »Nein, Papa, er ist vollkommen unschuldig. Man hat ihn reingelegt, und er muss es ausbaden. Und ich brauche das Geld. Bei uns geht es um Tod und Leben.«
    »Tod und Leben, wovon redest du, Kind? Er ist im Gefängnis, na schön, irgendetwas wird er angestellt haben, aber es geht nicht um Tod und Leben.«
    »Doch, Papa. Carlos ist zu stolz, er erträgt die Schmach nicht, in einer Zelle eingesperrt zu sein. Diese Schande überlebt er nicht, er bringt sich um. Bitte, gib mir das Geld. In seiner Heimat steht immer die ganze Familie für die Familie ein, sagt Carlos.«
    »Wie schön für ihn. Aber Carlos gehört nicht zu meiner Familie. Ich kenne deinen Carlos überhaupt nicht.«
    »Er ist mein Verlobter, Papa.«
    »Der im Gefängnis sitzt und dich auch noch dahin bringt.«
    »Papa, das kannst du mir alles später an den Kopfwerfen, aber ich brauche das Geld jetzt. Schick es mir bitte, schick es, so schnell du kannst.«
    »Judith, ich habe nicht so viel Geld. Mein Konto ist im Minus, ich habe drei offene Rechnungen und eine dicke Forderung vom Finanzamt. Ich kann dir nicht einmal hundert Euro schicken, tut mir leid.«
    »Du bist und bleibst ein Spießer, ein verknöchertes Arschloch, wie Mama sagt.«
    »Nun, wenn Mama das sagt …«
    Er unterbricht sich, da seine Tochter aufgelegt hat.
    Als er im Bett liegt, ist er verwundert, dass ihn Judiths Anruf nicht beunruhigt. Das Kind steckt in Schwierigkeiten, wieder mal, aber das Mädchen ist dreißig, und sie verstrickt sich immer in Probleme, seit den Kinderschuhen. Damals hatte er einmal im Monat in der Schule zu erscheinen, um irgendetwas zu klären oder zu bereinigen, was sie angestellt hatte, und immer meinte sie, sie sei unschuldig, sie sei das Opfer und alle seien gegen sie. Nach der Scheidung hatte er darum kämpfen müssen, seine Tochter regelmäßig zu sehen, doch der Mutter gelang es, Judith gegen ihn einzunehmen. Das Mädchen war bei ihren Zusammentreffen wirsch und wirkte verklemmt, als befürchte sie, angegriffen zu werden. Seine Wohnungseinrichtung missfiel ihr, und bei jedem Besuch mokierte sie sich über die Bilder oder Sessel, selbst die schlichten Wandfarben galten ihr als kleinbürgerlich und verspießert. Mit dem Beginn ihres Studiums verbesserte sich für zwei Jahre ihr Verhältnis, sie sah ein, dass sie ihren Vater stets mit den Augen der verlassenen, frustrierten Mutter betrachtet und beurteilt hatte, und er machte sich Hoffnungen, sie für sich zu gewinnen, doch dann lernte sie einen Studenten ausLibyen kennen, zog mit ihm zusammen, und er hörte ein ganzes Jahr nichts von ihr. Seine Briefe beantwortete sie nicht, eine Telefonnummer hatte auch ihre Mutter nicht, bei der die Tochter sich ebenfalls nicht mehr blicken ließ. Und als sie sich wieder bei ihm meldete, ging es um Geld, das sie für den Libyer und seinen Befreiungskampf brauchte. Ihre Partner wechselte sie häufig,

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