Weiß (German Edition)
zufriedener Ausdruck und seine Lippen umspielte ein leises Lächeln. Soeben war ihm eine interessante Idee gekommen.
Teil 2 : Der Mittag
Eins
Lewins Hände zitterten, als er das Haus verließ. In sich spürte er eine Energie, die vielleicht am besten mit den Auswirkungen einer zu schnell getrunkenen Tasse Kaffee zu vergleichen wäre. Allerdings ohne unangenehmes Herzrasen oder Magenschmerzen. Er wusste, dass er diesen Schub ausnutzen musste. Obwohl er keinen Schimmer hatte, weshalb er sich ausgerechnet heute so gut fühlte, war ihm doch klar, dass dieses Gefühl eine Art Geschenk war. Lydia hatte gesagt, er müsse etwas gegen die Dinge unternehmen, die ihn quälten. Und genau das wollte er jetzt tun. Seine Reaktion im Zimmer des Alten war seit Langem genauso überfällig gewesen, wie es die Auseinandersetzung mit einer gewissen Gruppe von Leuten war.
Lewin war klar, dass er sich keineswegs überschätzen durft e. Nur weil er sich heute ausnahmsweise einmal nicht schlapp und müde fühlte, hieß das nicht, dass er nun automatisch über Superkräfte verfügte. Er wusste, dass er bei den Anderen nur etwas ausrichten konnte, wenn er sie sich einzeln vornahm. Das war kein leichtes Unterfangen, denn um die Mittagszeit erlebte man in Weiß die heißesten Stunden. Die meisten seiner Peiniger befanden sich vermutlich geschützt in ihren Häusern. Sie auf diese Weise aufzuspüren, würde ihn den ganzen Tag kosten, was bedeutete, dass er sie unmöglich alle aufsuchen konnte. Dadurch erhöhte sich die Gefahr, dass er es von ihnen in den nächsten Tagen gleich doppelt und dreifach zurückbekommen würde und sie ihn am nächsten Baum aufknüpfen würden. Aber ihm ging es hier nicht um eine Lösung des Konflikts, sondern darum, ihnen so viel wie möglich von dem zurückzuzahlen, was sie ihm angetan hatten. Selbst wenn das bedeutete, dass er dadurch die ein oder andere Tracht Prügel mehr zu beziehen hatte. Darauf kam es schließlich nicht mehr an.
Er dachte an Lydia und erneut überkam ihn das Gefühl, sich seit dem Treffen mit ihr verändert zu haben. Er war sich nicht sicher, was es war, aber es brachte ihn dazu, sich besser zu fühlen. Kräftiger. Mutiger.
Lewins Füße marschierten ohne sein Zutun über den fliegenden Staub der Stra ßen. Er wusste, wohin er wollte. Wohin er musste. Wer der erste sein würde. Dabei waren für diese Auswahl in erster Linie praktische Gründe entscheidend, denn Aaron war der einzige, von dem er sicher wusste, wo er sich gerade aufhielt.
Der schöne Aaron
Dieser Junge war wahnsinnig gutaussehend und in Weiß überaus beliebt. Alle Menschen mochten ihn, aber niemand kannte ihn. Zumindest nicht richtig.
Sein Gesicht war perfekt und makellos und ebenso verhielt es sich mit der Täuschung, die er aufgrund dieses Aussehens aufrechterhalten konnte. Die braunen Locken, die die zarte Blässe seines ebenmäßigen Gesichts unterstrichen, erinnerten an die Bilder großer Maler. Ich glaube wirklich, dass man Aaron in jeder beliebigen Kirche an die Decke hätte nageln können und dadurch in Sekundenschnelle das Flair der Sixtinischen Kapelle heraufbeschworen hätte.
Weil er so schön war, stellten die Leute Aaron keine Fragen. Jeder genoss es , ihn anzusehen und sich in seiner Gegenwart aufzuhalten, weil man sich bei diesen Gelegenheiten in seinem Glanz sonnen konnte. Und wer konnte sich schon sicher sein, dass von diesem nicht vielleicht sogar etwas auf einen selbst abfärbte? Alle Menschen wollen schließlich besser sein, als sie in Wirklichkeit sind. Sich ein bisschen schöner, ein bisschen klüger, ein bisschen begehrter fühlen. Teufel auch, manche wären sogar bereit ihre Seele zu verkaufen, nur um etwas mehr Aufmerksamkeit zu bekommen.
Aaron war Künstler. Der einzige in Weiß und dabei kein besonders guter. Trotzdem war er durchaus erfolgreich, denn die Leute kauften seine hässlichen Bilder, ohne auf deren Qualität zu achten. Sie wollten ihn unterstützen und sich etwas in ihr Wohnzimmer hängen, von dem sie wussten, dass seine zarten Hände es berührt hatten. Die Leute hier besaßen keinen Kunstverstand, sie verfügten ja nicht einmal über Geschmack, aber etwas Besseres hätte Aaron nicht passieren können. Die Leute beteten ihn und seine Bilder an und er konnte seiner sogenannten Kreativität freien Lauf lassen.
Jetzt stellt sich natürlich die Frage, aus welchem Grund dieser zarte Künstler mit den schmeichelnden Augen in meiner Geschichte überhaupt auftaucht. Immerhin scheint er,
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