Weiß (German Edition)
beispielsweise im Vergleich zu Kneif, doch eher von harmloser Natur zu sein. Dieser Vorstellung aber gilt es aufs Dringlichste zu widersprechen. Aaron war nicht harmlos. Er war ein Sohn des Teufels, dessen Boshaftigkeit sich in seinem engelsgleichen Gesicht manifestierte, sodass sie für jedermann zu sehen war und trotzdem unentdeckt blieb.
Der hübsche Künstler ernährte sich nämlich von der Liebe anderer Leute.
Das mag auf den ersten Blick nicht besonders gefährlich klingen. Jeder, der schon einmal von einem anderen Menschen bewundert wurde, kann wohl nachvollziehen, dass sich aus diesem Gefühl schnell ein gewisser Rausch entwickeln kann. Aber bei Aaron war das anders. Aaron war regelrecht süchtig nach Liebe und setzte alles daran, dieses Gefühl in anderen Menschen hervorzurufen. Hatte er dieses Ziel erreicht, versuchte er die Bewunderung und Hingabe des anderen bis aufs Äußerste zu steigern. Er verführte die jungen Mädchen, machte ihnen hübsche Augen und Geschenke, bezeichnete sie als seine Musen, bis sie ihm völlig verfielen und sich kaum noch an den eigenen Namen erinnern konnten. In Weiß gab es kaum ein Mädchen, dass nicht schon einmal Modell für ihn gestanden hatte und dem er anschließend nicht erzählt hatte, wie unwahrscheinlich inspirierend gerade diese Sitzung gewesen sei. Er brachte sie dazu, sich ihm hinzugeben, ihren Körper und ihre Seele zu entblößen, bis sie vollkommen schutzlos waren. Er labte sich an der Bewunderung in ihren Augen und erfrischte sich an ihrer Unverdorbenheit. Viele von ihnen hätten auf der Stelle Vater und Mutter verkauft, nur um eine weitere Stunde in seiner Nähe verbringen zu können.
Aaron nahm ihnen die Unschuld und wenn er sie ausgesaugt hatte, ließ er sie fallen wie ein schmutziges Papiertaschentuch. Danach weinten die Mädchen sich die Augen aus, konnten zu ihrem Unglück aber nicht umhin, den verlogenen Schönling weiterhin zu bewundern. Zurück blieben ausgebrannte Seelen, unvermögend die eigenen Gefühle zu kontrollieren und ihre Würde zu bewahren, da sie sich ihm immer wieder aufs Neue zu Füßen werfen mussten.
Ich bin kein Rächer der Betrogenen, das war ich nie und werde ich auch niemals sein. Meine Motive sind in erster Linie selbstsüchtig und die Entscheidung, Aaron an diesem Tag einen Besuch abzustatten, hatte nicht viel mit den unglücklichen Mädchen zu tun, die ihr Herz an diese giftige Schlange verschenkt hatten. Mein Interesse an Aaron gründete vielmehr in seiner Freundschaft zu Simon, Kneif und den Anderen. Die abwertenden Blicke, die er mir zuwarf, wenn ich ihm irgendwo begegnete, trafen mich so manches Mal härter als jeder Schlag von Kneif es vermocht hätte. Dem schönen Jungen, der so sehr darauf bedacht war, dass alle ihn mochten, waren meine Gefühle ihm gegenüber vollkommen egal.
Ich habe keine Ahnung, was die Anderen ihm über mich erzählt hatten, aber dass er es offenbar glaubte, war das Schlimmste für mich.
Ich musste doch eine Chance bekommen, mich zu verteidigen.
Zwei
Lewin starrte auf die verwitterte blaue Holztür. An vielen Stellen platzte die Farbe bereits ab, darunter schimmerte das morsche, faulende Holz hervor. Rost umschlang die alten Eisenbeschläge und von der geschmiedeten Klinke seilte sich eine kleine, schwarze Spinne in die Tiefe. Das Sonnenlicht brach sich an ihrem seidenen Faden und Lewin fragte sich, ob diese kleine Spinne ebenfalls unter der erbarmungslosen Hitze litt.
Mit einem knarrenden Geräusch öffnete sich die schwere Tür und Lewin blickte in die überrascht aufblitzenden Augen des schönen Aaron. Nur einen Sekundenbruchteil später verzog sich dessen hübscher Schmollmund zu einer abschätzigen Schnute und zwischen den dichten, elegant geschwungenen Augenbrauen bildete sich eine tiefe Furche. Plötzlich fühlte Lewin sich unbehaglich. Vielleicht war es doch keine gute Idee gewesen, hierher zu kommen.
„Was willst du hier?“ Aarons Stimme war tief, dunkel und bis zum Bersten mit Abneigung gefüllt.
„Ich hab ein Angebot für dich.“ Lewin wunderte sich, über seine eigene Stimme. Seitdem Aaron die Tür geöffnet und ihn mit seinem verachtenden Blick angesehen hatte, fühlte er sich unwohl, beinahe so, als fürchtete er sich vor dem Künstler. Er hätte also ein weinerliches Piepsen aus seinem Mund erwartet, aber als die Worte auf sein Ohr trafen, waren sie fest und bestimmt.
Im Blick des schönen Aarons regte sich nichts, aber er trat langsam einen Schritt beiseite und ließ
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