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Weiß (German Edition)

Weiß (German Edition)

Titel: Weiß (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Harper Ames
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verkürzen, widmete er sich intensiver den Büchern auf dem kleinen Tisch. Dieses Mal zog er ein kleineres, dünneres Buch aus einem der Stapel hervor und blätterte darin herum.
    Dieses Buch war wesentlich neuer als die anderen, allerdings in derselben für ihn unlesbaren Sprache verfasst. Es verfügte über mehrere Bilder, die jedoch mit kleinen Schmuckstücken oder Penispuppen nichts zu tun hatten. Stattdessen zeigten sie schauerliche Szenarien, die Lewin an die Horrorfilme über das Mittelalter erinnerten, die er früher so oft und gern gesehen hatte. Auf einem der Bilder, das ihn besonders faszinierte, war ein nackter Mann an einen Baum gebunden. Sein langes Haar hing ihm in Strähnen über das Gesicht, sein ausgemergelter Körper war geschunden, an manchen Stellen konnte man sehen , wie sich die Haut von seinem Fleisch löste.
    Vor dem festgebundenen Mann knieten mehrere Gestalten auf dem Boden, die aufgrund ihrer wallenden Kleidu ng kaum zu identifizieren waren. Lewin schätzte, dass es alte Frauen waren, die entweder beteten oder um Gnade baten. Ein gravierender Unterschied, der auf dem Bild aber seltsamerweise nicht auszumachen war. Die Szenerie auf dem Bild wirkte bedrückend und traurig. Sie erinnerte an die Kreuzigung Jesu‘, wirkte aber noch brutaler und freudloser.
    In Lewins Mund breitete sich ein fader Geschmack aus und rasch blätterte er ein paar Seiten weiter. Die übrigen Zeichnungen in dem Buch waren eher belustigend als beunruhigend; gehörnte Gestalten, die um lodernde Flammen herumtanzten, Menschen, die in überdimensionierten Kochtöpfen saßen und die üblichen mittelalterlichen Vorstellungen von Hölle und Fegefeuer.
    Lewin klappte das Buch zu und legte es zurück auf den Tisch. Nachdem er eine Weile an die Decke gestarrt und über die Ereignisse des heutigen Tages nachgedacht hatte, wurde ihm klar, dass Lydia noch eine ganze Weile verschwunden bleiben konnte. Ihre Verabredung war erst in zwei Stunden und bis dahin könnte er sich hier den Hintern platt sitzen, ohne das von ihr auch nur eine Spur auftauchte. Es war besser, nach Hause zu gehen, vielleicht eine Dusche zu nehmen, noch etwas zu essen und später dann ausgeruht und vor allen Dingen wohlriechend hier wieder zu erscheinen. Seine Schweißdrüsen hatten heute den ganzen Tag über großartige Arbeit geleistet und dementsprechend roch er wahrscheinlich auch.
    Lewin erhob sich und warf einen letzten Blick durch das Zimmer. Unerwartet hatte er das Gefühl als wehte ihm ein kühler Lufthauch entgegen, der ihm durchs Haar fuhr und seinen Nacken hinunterkroch. Lewin fröstelte und zog die Schultern hoch. Dann verließ er das Hinterzimmer und ging mit großen Schritten durch den Verkaufsraum. Als er den Laden verließ, wirkte es, als hörte er hinter sich das Echo seiner eigenen Schritte und einen Wind, der durch leere Gänge pfiff.

Zehn
    Das Gewicht der stickigen Wärme auf Lewins Schultern wurde von Minute zu Minute weniger. Mit Einsetzen der Dämmerung verzog sich nicht nur die Schwüle aus der Luft, sondern begann auch die Stadt Weiß zu neuem Leben zu erwachen. Bewegten sich die ersten Menschen bereits am Nachmittag aus den Häusern, verließ nun auch der letzte von ihnen seine kühlen Mauern und machte sich auf den Weg an die Arbeit, zum Supermarkt oder in die Kneipe. Die Interessen waren vielseitig, aber banal.
    Lewin stapfte durch die kühler werdende Luft und hielt den Blick auf den Boden gerichtet. Er achtete nicht mehr darauf, ob er anderen Leuten begegnete oder nicht. Es gab keinen Grund mehr, sich zu verstecken. Niemand von ihnen konnte ihm mehr etwas anhaben, ihn beschimpfen oder beleidigen. Er musste sich auch nicht vor einer Krankheit verstecken, die es in Wirklichkeit gar nicht gab. Nichts mehr würde in sein Innerstes dringen können, denn dort war kein Platz mehr. An die Stelle der Leere, die er dort immer verspürt hatte, war etwas anderes getreten. Etwas Dunkles, aber dennoch Vertrautes. Etwas Warmes, das ihm ein gutes Gefühl gab. Nein, er musste sich jetzt nichts mehr gefallen lassen.
    Lewin ließ seinen Blick über die umliegenden Häuser gleiten und fragte sich, ob er all das hier vermissen würde. Diese Umgebung, das Leben in dieser Stadt, die Menschen. Er wusste, dass er hier nicht würde bleiben können. Seine Zeit in Weiß war vorüber. Das spürte er, obwohl er nicht genau wusste, was dieses Gefühl zu bedeuten hatte.
    Lewin schreckte aus seinen Gedanken hoch, als er ein verzweifeltes Gewinsel hörte. Er

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