Weiß (German Edition)
an den schmutzigen Füßen trug das Kind keine Schuhe. Als er das Kleine erreicht hatte, legte Lewin ihm vorsichtig eine Hand auf die winzige Schulter. Erschrocken drehte das Kind sich um und starrte ihn aus zusammengekniffenen Augen giftig an. Lewin konnte keine Tränen im Gesicht des Kindes sehen, die schmutzigen Wangen waren trocken und leuchteten gesund. Die hellrosa Lippen des Kindes verzogen sich zu einem hinterhältigen Grinsen und entblößten dabei eine Reihe dunkelbrauner Zähne sowie mehrere Zahnlücken.
„Was willst du?“, zischte das Kind und Lewin zog erschrocken die Hand zurück. „Wir spielen hier, lass uns gefälligst in Ruhe!“
Lewin sah sich um, konnte aber kein anderes Kind entdecken. Er wollte gerade eine entsprechende Frage stellen, als ihm ein Gedanke durch den Kopf schoss. Er beugte den Oberkörper nach vorn und warf einen Blick in den schmutzigen Kinderwagen. Als er entdeckte, was sich in diesem befand, lief ihm ein kalter Schauer über den Rücken.
Im Kinderwagen lagen drei tote Katzen. Eine kleine weiße Plastiktüte, die mit Blättern gefüllt war, diente als Decke für die toten Tiere und um den Kopf der mittleren Katze war eine kleine, schmutzige Haube gebunden. Alle drei Tiere hatten erschreckend weit aufgerissene Augen und Spuren einer weißen Flüssigkeit im Gesicht, die unter Mund, Nase und Augen in eingetrockneten Resten klebte.
Lewin trat erschrocken einen Schritt zurück. Entsetzt sah er das Kind an, auf dessen Gesicht sich jetzt ein empörter Ausdruck breit machte.
„Das sind meine Freunde! Ich hab sie selbst gesammelt, du darfst sie mir nicht wegnehmen! Verschwinde hier, die gehören mir und sie müssen jetzt schlafen!“, schrie es.
Lewin sah sich um. Erst jetzt fiel ihm auf, dass neben dem Jungen zwei große Plastiktüten standen, aus denen die Gliedmaßen weiterer Katzen hervorragten. Schlagartig schoss ihm saure Luft in die Kehle. Er warf einen entsetzten Blick auf die böse funkelnden Augen des Kindes und trat dann hastig die Flucht an.
Als er bereits um die Häuserecke war und sich einen Weg durch das Sperrgut zurück auf die Straße bahnte, hörte er, wie das Kind hinter ihm wieder zu schluchzen und kichern begann. Wenn es noch einen Zweifel in ihm gegeben hatte, ob diese Stadt es verdient hatte zu existieren, so war dieser spätestens jetzt endgültig beseitigt.
Teil 4 : Der letzte Abend in Weiß
Eins
Lewin freute sich auf das Ende. Das Ende des Umherirrens, das Ende dieser furchtbaren Hitze, das Ende allen Kummers. Jetzt, nachdem die Sonne untergegangen war, herrschte in seinem Kopf eine völlig neue Klarheit. Die Verunsicherung und Verwirrung der letzten Stunden hatte sich vollkommen verzogen. Die letzte halbe Stunde hatte er unter der Dusche verbracht. Abwechselnd ließ er heißes und kaltes Wasser über seinen Körper laufen. Er spürte, wie sich jeder Muskel seines Körpers entspannte. Ruhe strömte durch seine Venen. Er war nicht müde. Vorhin im Wald, bevor er Kneif getroffen hatte, war er müde gewesen. Jetzt war er einfach nur ruhig. Und kontrolliert. Er hatte keine Ahnung von Meditationen, aber er glaubte, dass es sich so anfühlen musste, wenn man ganz bei sich selbst war. Er fühlte keine Wut, dachte nicht an Rache. Was passierte, passierte. Das war der Lauf der Dinge und so, wie sich alles entwickelte, war es ihm ganz recht. Er wollte sich nicht mehr wehren. Diese Kraft ihn ihm war da und er wusste, wofür er sie benutzen sollte. Er wollte jetzt keine Erklärungen suchen, keine Gründe finden. Er wollte endlich Lydia wiedersehen.
Nach der Dusche schlüpfte Lewin in eine frische Jeans und zog sich ein neues Shirt über. Bei einem Blick in den Spiegel stellte er zufrieden fest, dass von der Schlägerei am Vormittag keine Spur mehr zu sehen war. Aus der reflektierenden Fläche blickte ihn sein normales, durchschnittliches Alltagsgesicht an. Diese Superkräfte oder was es war, das ihm Macht verlieh, kurbelten offenbar seine Selbstheilungskräfte an. Die Bisswunde, die Kneif ihm zugefügt hatte, hatte nicht nur längst aufgehört zu schmerzen, sondern war gänzlich verschwunden. Lewin wusste, dass das eigentlich unmöglich war, aber in einer Reihe wunderlicher Ereignisse war diese mysteriöse Genesung nur ein weiterer Aspekt, den er jetzt nicht weiter hinterfragen wollte.
Die einzige sichtbare Veränderung, die der heutige Tag bei ihm hinterlassen hatte, entdeckte er in seinem Blick. Dieser schien fester und bestimmter als zuvor. Lewin verwunderte
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