Weiß wie Milch, rot wie Blut - D'Avenia, A: Weiß wie Milch, rot wie Blut - Bianca come il latte, rossa come il sangue
Retequattro-Hypnose gefallen zu sein. Die Alten. Ich gehe zur Vase. Nehme eine Margerite. Eine weiße. Eine der beiden Frauen sieht mich an. Ich lächele.
»Für eine Freundin.«
Ihr Gesicht, das gerade aus einer Steinzeithöhle hervorgekrochen zu sein scheint, nickt und legt sich dabei in kratertiefe Falten.
»Gute Nacht.«
»Gute Nacht«, sagt sie mir sanft, und die Krater glätten sich zu einer ruhigen See. Beschwingt verlasse ich mit der Blume in der Hand das Zimmer. Die Margerite ist wunderschön. Schlicht und ergreifend, genau wie eine Margerite sein muss. Es ist, als hätte jemand den Samen extra für diesen Moment gesät. Der Gärtner wusste es nicht, aber er tat es für mich. Dieser Moment hat seiner Arbeit Sinn gegeben. In der weißen Stille des Abends trage ich eine Margerite durch den Krankenhausflur zu Beatrice, onkologische Abteilung, Zimmer 234. Als ich eintrete, liegt das Zimmer im Halbdunkel. Beatrice und die Faltenfrau sind nur als Schemen zu erkennen. Sie schlafen schon. Sie sehen so gleich aus im Dämmerlicht! Beide sind von ihrem Leiden gezeichnet. Sie sind sich so nah und doch so verschieden. Es ist nicht fair, dass ein junger Mensch so schnell altert. Beatrice schläft. Unter der braunen Krankenhausdecke kann ich nur ihr Profil ausmachen, und es erscheint mir, als vereinten sich darin die schönsten Profile, die ich kenne. Ich trete ans Bett und lege die Margerite neben sie auf den Nachttisch. Ich summe ein Lied, ohne mich zu schämen, ohne rot zu werden.
Gute Nacht,
gute Nacht, kleine Blume,
gute Nacht
zwischen Bett und Sternenzelt.
Mein Traum von dir
braucht deine Nähe,
deine Nähe,
die mich umfängt und hält …
Schweigend gehe ich hinaus. Was ich tun musste, habe ich getan: meine erste Serenade. Im Schlafanzug, aber immerhin.
I ch lege mich wieder ins Bett und kann nicht einschlafen. Wenn ich Beatrice ansehe, liegt mir ein Ziegelstein im Magen. Ganz anders als das Gefühl, das man hat, wenn man ein Mädchen sieht, das einem gefällt. Bei manchen Mädchen wird einem ganz schwindelig, so schön sind die. Bei Beatrice habe ich einen Ziegelstein im Magen, eine Last, die ich zu tragen habe, eine süße Last … das muss das Zeichen für wahre Liebe sein. Das ist nicht die Liebe, die einem den Kopf verdreht, sondern die, die einen erdet wie die Schwerkraft. Ich habe Silvias Bild angesehen und bin bei brennendem Licht eingeschlafen. Ich habe mir vorge stellt, ich stünde am Steuer dieses Segelbootes, mit Beatrice neben mir, unterwegs zu einer Insel, auf der all unsere Träume wahr würden. Eine Margerite in ihrem sonnenleuchtenden, roten Haar, das aussieht wie das wogende Meer.
Wie Aldo, Giovanni und Giacomo schon sagten: Frag mich, ob ich glücklich bin. Ja, zumindest in meinen Träumen.
E ndlich kann ich nach Hause. Morgen ist Weihnachten, und ich werde entlassen. Ein Glück … Mein Arm ist bisher das Einzige, was eingepackt ist: in Tonnen von Gips! Aber vorher muss ich Beatrice noch meinen Brief geben, damit wir uns wiedersehen, wenn sie ebenfalls rauskommt. Alles wird sich fügen, und wir leben glücklich und zufrieden. Ich warte auf die schützende Nacht, wenn das ganze Krankenhaus vom vielstimmigen Schnarchen widerhallt, das wie Wildschweingrunzen aus den Zimmern dringt. Der Geruch nach Krankheit scheint sich im Schlaf zu legen, genau wie der Schmerz. Mein Brief steckt in einem frischen Umschlag, den Silvia mir besorgt hat. Er ist zugeklebt. Leise schleiche ich auf Beatrices Station. Bei jedem Schritt wird meine Seele weiter, und mein Herz verwandelt sich in ein Haus, in dem Beatrice schon begonnen hat, einzurichten, Dinge, Gefühle, Träume und Pläne zu verrücken, wie es ihr gefällt. Ich kenne die Worte des Briefes auswendig, als lösten sie sich vom Papier und würden lebendig.
Ihre Zimmertür ist geschlossen. Ich öffne sie so behutsam es geht. Ich trete an ihr Bett und halte den Atem an, um jeden kleinsten Seufzer, jeden winzigsten Duft wahrzunehmen.
Das Bett ist leer. Die Laken sind makellos, weiß, ohne eine Falte.
Ich setze mich aufs Bett. Umklammere den Brief, bis er zerknittert. Mein Traum ist wie einer dieser Drachen, die ich als kleiner Junge mit meinem Vater gebaut habe. Monatelang bastelt man daran herum, und dann fliegen sie nicht. Nur einmal haben wir einen rotweißen Drachen in die Luft gekriegt, aber der Wind war so heftig, dass die Schnur mir in die Hand geschnitten hat und ich ihn vor Schmerz losgelassen habe.
So fliegt Beatrice davon, vom Wind
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