Weiß wie Milch, rot wie Blut - D'Avenia, A: Weiß wie Milch, rot wie Blut - Bianca come il latte, rossa come il sangue
müde.«
Ich lächle zurück. Wie eine wandelnde Mumie nähere ich mich Beatrices Bett. Ich kriege einen Schreck. Über ihr baumelt ein Tropf, und der Schlauch führt direkt in ihr Handgelenk, in die Adern, und an der Nadel, die Beatrices Haut durchsticht, ist ihr rotes Blut zu sehen. In diesen Adern fließt auch mein Blut. Meine knallroten Blutkörperchen verschlingen ihre weißen und färben sie rot. Ich spüre Be atrices Schmerz und wünschte, es wäre meiner und ihr ginge es gut. Schließlich bin ich eh schon im Krankenhaus.
Beatrice schläft. Sie ist anders, als ich sie in Erinnerung hatte. Schutzlos. Blass, mit einem seltsam bläulichen Schimmer um die Augen, der keine Schminke ist. Sie schläft. Ihre Arme stecken in einem leichten blauen Pyjama und liegen kraftlos zu beiden Seiten. Ihre Hände sind zart und knochig. Ich habe sie noch nie so nah gesehen. Sie sieht aus wie eine Fee. Sie ist allein. Sie schläft. Mindestens eine halbe Stunde sitze ich da und sehe sie an. Und sie schläft. Wir wechseln kein Wort, aber das ist egal. Ich betrachte ihr Gesicht, um mir jede Kleinigkeit einzuprägen. Sie hat ein kleines Grübchen auf der rechten Wange, das sie selbst im Schlaf aussehen lässt, als würde sie lächeln. Sie macht kein Geräusch. Kein Atem ist zu hören. Sie ist still. Doch strahlend wie immer, wie ein Stern in der Nacht. Dann kommt die Schwester zur Kontrolle herein und schickt mich raus. Linkisch quäle ich mich in meinem Festtagsschlafanzug aus dem Stuhl.
»Na, Dressman, kennst du sie?« Die Speckrollen der presswurstdicken Krankenschwester beben vor Vergnügen über ihren soeben gemachten Witz. Einen Moment lang sage ich nichts und antworte dann mit einem seligen Lächeln:
»Ja, sie ist meine Freundin. Ich hab mir den Arm gebrochen, um ihr nahe zu sein …«
Die Presswurst-Schwester unterdrückt etwas schwer zu Deutendes, das über ein Lächeln hinausgeht. Bevor ich gehe, streichele ich Beatrice über die Wange. Ich wecke sie nicht, doch ich will, dass sie beim Aufwachen meine Zärtlichkeit spürt.
Werde gesund, Beatrice. Ich habe einen Traum. Und du sollst mich begleiten.
I ch habe den Brief nicht bei Beatrice gelassen, ich hab’s vergessen, die Presswurst-Schwester ist schuld, sie hat mich abgelenkt. Aber vielleicht war es auch nicht der richtige Moment. Ich öffne ihn, um ihn noch einmal zu lesen. Laut, als würde ich ihn ihr vorlesen. Gandalfs Kruzifix fällt zu Boden. Es steckte im Umschlag. Es rutscht in eine Ecke, an die man unmöglich rankommt, wie alle Sachen, die man dringend braucht. Ich muss mir fast den gesunden Arm ausrenken, um es wiederzuholen. Ich umklammere es fest. Wütend. Ich sehe es an. Er schläft auch. Er hat den gleichen Gesichtsausdruck wie die schlafende Beatrice. Und ich begreife, dass er weiß, wie sich Beatrice fühlt, weil er dasselbe durchgemacht hat.
Vorausgesetzt, du existierst: Wieso müssen gute Menschen leiden? Du antwortest eh nicht. Keine Ahnung, ob es dich gibt. Aber wenn es dich gibt und du Wunder vollbringen kannst, dann vollbring doch eines für mich: Lass Beatrice gesund werden. Wenn du’s tust, fang ich an, an dich zu glauben. Na, wie klingt das?
I ch habe den ganzen Tag im Bett gesessen. Durchs Mikroskop meiner Erinnerungen habe ich mir Beatrices schla fendes Gesicht noch einmal Millimeter für Millimeter angesehen. Ich habe mich in das Grübchen auf ihrer rechten Wange geschmiegt und bin stundenlang darin liegengeblieben, wie ein Neugeborenes in der Wiege oder wie damals als Kind, als ich diese grauenhaften schwarzweißen Malbücher bunt ausgemalt habe. Von dort hatte man einen besseren Blick auf die Welt, mir war, als könnte ich der Stille lauschen, ohne vor ihr Angst zu haben, als könnte ich das Dunkel berühren. Es war, als würden sich meine nach langem Schlaf tauben Sinne endlich recken. So sind die Stunden unbemerkt vergangen. Anders als mit der Glotze. Denn jetzt bin ich nicht müde, ich könnte wieder von vorn anfangen.
Es ist schon Abend. Draußen ist es dunkel. Ich will Beatrice vor der Nacht schützen. Ich steige aus dem Bett und mache mich auf den Weg zu ihrer Station. Ich rieche den Krankenhausgeruch nicht mehr, nur den Geruch der Kranken nehme ich noch wahr und habe weniger Angst vor ihm. Ich kehre um. Ich kann nicht mit leeren Händen ankommen. Ich schlüpfe in ein Zimmer, in dem Blumen in einer Vase stehen. Zwei Frauen sehen fern. Einen dieser öden Filme auf Retequattro. Trotzdem scheinen sie in eine stumme
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