Weiß wie Milch, rot wie Blut - D'Avenia, A: Weiß wie Milch, rot wie Blut - Bianca come il latte, rossa come il sangue
Alices Wunderland katapultiert worden ist.
»Ja, unbedingt …«
Mehr bringe ich nicht heraus. Und das Einzige, was ich nicht »gecrackt« kriege, ist die schreiende Angst, Beatrice zu verlieren. Noch nie habe ich mich nach einem Sieg mit meiner Piraten-Mannschaft so allein gefühlt.
»… es geht um Leben und Tod …«
»Übertreib nicht gleich, Leo, es ist nur ein Videospiel! Ich hau ab, Alice wartet auf mich. Bis morgen.«
»Bis morgen.«
Wie ein Dieb schiebe ich den Schlüssel ins Schloss.
Die Tür öffnet sich sacht. Niemand zu sehen. Ich höre das Radio, das vor sich hin dudelt, erkenne Vasco Rossis Stimme, die singt, »Ich will ein wildes Leben, ein Leben wie im Film«, und klingt wie ein schlechter Witz. Ich drücke die Tür zu. Meine Mutter hat mich nicht gehört, doch Terminator kläfft los wie ein Irrer mit Blasendruck, weil er jedes Mal durchdreht, sobald ich die Tür auf- und zumache. Meine Mutter guckt um die Ecke, um nachzusehen, was los ist, und da stehe ich mit Trainingsanzug und Sporttasche, und Terminator hüpft winselnd um mich herum.
»Was machst du denn da? Warst du nicht in deinem Zimmer, um zu lernen?«
Leo, tief durchatmen: Es geht um alles oder nichts.
»Ja, aber ich hab ’ ne Pause gemacht und bin mit Terminator rausgegangen …«
Die einzige Ausrede, die mich retten kann …
Meine Mutter starrt mich an wie ein amerikanischer Cop bei einem Verhör.
»Und wieso stinkst du dann so?«
»Ich hab die Gelegenheit genutzt und bin ein bisschen gelaufen. Ich kann einfach nicht immer nur lernen … entschuldige, Mamma, ich hätte dir was sagen sollen, aber Terminator hat die Krise gekriegt … du weißt ja, wie er ist!«
Das Gesicht meiner Mutter entspannt sich. Und ich verschwinde in meinem Zimmer, wo Vasco brüllt: »Ist ja sowieso alles egaaaal«, ehe mein Gesicht mich verrät und Terminator den schlagenden Beweis liefert, dass niemand seine schwache Blase zum Pinkeln ausgeführt hat …
M ontag. Fünf vor acht. Ein Fünfstundentag erwartet mich, mit einer Englischarbeit mittendrin. Eine Art riesiger Cheeseburger mit einer Marmorscheibe in der Mitte. Weiter vorn sehe ich Niko mit Alice, die tatsächlich ein Hingucker ist. Sie haben mich nicht gesehen. Ich kann sie einfach nicht treffen, sie sind zu glücklich.
Ich ducke mich und verstecke mich hinter einer Gruppe Zwölftklässler, die die Köpfe über der »Gazzetta« zusammenstecken, um anhand der Fußballerwertungen die »Fantacalcio«-Ergebnisse auszurechnen. In letzter Zeit interessiert mich Fußball weniger. Ich bin dermaßen eingenommen von all dem, was mir gerade passiert, dass ich gar keine Zeit mehr habe, alle möglichen und unmöglichen Übertragungen, Spiele und Meisterschaften zu verfolgen, die je auf einem rechteckigen Stück grünem Rasen ausgetragen wurden.
Wie dem auch sei, der Anblick des glückstrahlenden Pärchens Niko und Alice ist heute Morgen zu viel für mich, und fünf Stunden Marter würden alles nur noch schlimmer machen. Also gehe ich wieder raus und biege in eine unbelebte Seitenstraße mit vermindertem Risiko unliebsamer Begegnungen jeder Art. Wer weiß, warum man ausgerechnet dann, wenn man beschließt, nicht in die Schule zu gehen, Leute trifft, die man seit Ewigkeiten nicht gesehen hat, vornehmlich Mammas Freundinnen, mit denen sie sich ausgerechnet an diesem Nachmittag zum Tee verabredet hat.
Mensch, Ihr Junge ist aber groß geworden, ein richtig hübscher Bursche ist der inzwischen … ich hab ihn heute Mittag im Park getroffen …
Mal davon abgesehen, dass für die Freundinnen der Mütter aus allen hübsche Burschen werden, macht meine Mutter mit, wiegelt ab, tut so, als wäre sie stolz auf diesen Nichtsnutz, der mittags in der Schule sitzen sollte, statt auf einer Parkbank rumzufläzen …
Jetzt reicht’s mit der Hirnwichserei: Der Würfel ist gefallen, gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist, wie Cäsar einst sagte, glaube ich zumindest. In der Ferne höre ich die Schulglocke, die zur Totenmesse zu läuten scheint. Und ich will nicht sterben. Mit jedem Schritt, der mich weiter von der Schule fortbringt, öffnet sich im Straßenpflaster ein Schlund aus Angst und Übertretung. Wieso ist zur Schule gehen eigentlich so schwer? Wieso werden wir zu Dingen gezwungen, obwohl wir uns um sehr viel Wichtigeres kümmern müssten? Und wieso kommt mir ausgerechnet in der am wenigsten belebten Straße des ganzen Viertels meine Englischlehrerin entgegen?
Ich kann mich gerade noch hinter einen Geländewagen
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