Weiß wie Milch, rot wie Blut - D'Avenia, A: Weiß wie Milch, rot wie Blut - Bianca come il latte, rossa come il sangue
lieben. Das ist alles. Ich will von jeglichen Drogen loskommen: Faulheit, Playstation, YouTube, den Simpsons … Könnt ihr das verstehen?
Ich hole mein Taschenmesser raus und fange an, etwas in den Baumstamm zu ritzen. Gedankenverloren schnitze ich vor mich hin und grüble über meinen nächsten Schachzug nach, der das Schicksal schachmatt setzt und mich glücklich macht. Hin und wieder sehe ich zum Himmel auf und fühle die jahrhundertealten Runzeln dieses Baumes unter meinen Fingern, der stark und unerschütterlich ist und glücklich inmitten dieses Parks steht. Er ist ein Baum, nicht mehr und nicht weniger: Er versenkt seine Wurzeln ins nahe Flusswasser und wächst. Er folgt seiner Natur. Das ist das Geheimnis des Glücks: man selbst sein und basta. Sein, wer man sein soll. Wie gern hätte ich die Kraft dieses Baumes, außen rau und hart, und innen, wo der Lebenssaft fließt, weich und lebendig. Ich habe nicht den Mut, zu Beatrice zu gehen. Ich habe Angst. Ich schäme mich. Ich habe mich selbst, und das ist nicht genug, es ist nie genug. Selbstvergessen schnitze ich an der Rinde herum …
»Was machst du da?«
Ohne den Parkwächter anzusehen antworte ich:
»Ein naturwissenschaftliches Experiment …«
»Aber du hast doch keine Ahnung von Naturwissenschaft!«
Das ist kein Parkwächter. Ich drehe mich um:
»Silvia?«
Sie sieht mich mit Augen an, die ich nicht kenne. Silvia ist wahnsinnig gut in der Schule, immer vorbereitet, nie Fehlstunden, es sei denn wegen schwerer Krankheit wie Skorbut oder Lepra und nicht wegen allgemeiner, durch ein an der Nachttischlampe aufgeheiztes Fieberthermometer angezeigter Unpässlichkeit. Vor mir steht Silvia. Silvia schwänzt die Schule, mit mir und wegen mir. Silvia würde mich aus der Hölle holen, nur, um mich glücklich zu machen. Silvia ist ein blauer Engel. Ich hab’s gewusst. Oder vielleicht ist es ein Engel, der aussieht wie Silvia und mich gleich mit seinem flammenden Schwert dafür bestrafen wird, dass ich die Schule geschwänzt habe.
»Und? Wir beide hatten eine Abmachung. Wir wollten zusammen zu Beatrice gehen. Als ich gesehen habe, wie du heute Morgen abgehauen bist, wusste ich gleich, dass du hierherkommen würdest.«
Ich mache ihr auf der Bank der Träume Platz.
»Du auch? Heute haben mich wohl alle gesehen, bin ich jetzt bei ›Big Brother‹ oder was?«
Silvia lächelt. Dann sieht sie die Baumrinde an. Mein Taschenmesser hat eine mathematische Formel in den Stamm geritzt: G = B + L. Ein schmerzhafter Ausdruck huscht über ihr ernstes Gesicht und ist sofort wieder verschwunden.
»Wie sieht’s aus, wollen wir losgehen und die Gleichung des Glücks auflösen?«
Silvia ist der Lebenssaft meines Mutes, versteckt, aber lebendig, sie gibt mir die Kraft, über mich selbst hinauszuwachsen. Ich nehme ihre Hand.
»Gehen wir. Heute gibt es keine Scheiterhaufen. Nur Träume.«
Silvia sieht mich fragend an.
»Ach, nichts. Die Wunder des T9 …«
V o r Beatrices Haustür packt mich das Heuschrecken-Syndrom wie bei den Blues Brothers : Jede Entschuldigung ist recht, um davonzukommen. Aber Silvia bleibt hart. Sie nimmt mich fest bei der Hand, und wir steigen die Treppe hinauf. Die Tür geht auf, und plötzlich sitzen wir mit der rothaarigen Frau, die ich im Krankenhaus und dann auf dem Foto gesehen hatte, im Wohnzimmer. Es ist Beatrices Mutter. Sie kennt Silvia, aber mich nicht. Sie sagt, Beatrice schlafe. Sie sei sehr müde. In letzter Zeit haben ihre Kräfte nachgelassen.
Ich erzähle ihr von meiner Blutspende, vom Unfall und allem. Sie hat eine ruhige Stimme, ihr Gesicht ist müde und gealtert, als hätte sie ihre Jugendlichkeit auf dem Foto zurückgelassen. Sie bietet uns etwas zu trinken an. Wie immer weiß ich nicht, wie man sich in solchen Fällen verhält, und nehme das Angebot an. Als ich mit ihr rede, ist mir, als würde ich Beatrice als Erwachsene vor mir sehen. Beatrice wird noch schöner als ihre wunderbare Mutter sein.
Während sie uns etwas zu trinken holt, versuche ich jedes Detail in der Wohnung zu verinnerlichen. All das, was Beatrice jeden Tag sieht und berührt. Eine glasförmige Vase, eine Reihe aus kleinen Steinelefanten, ein Bild einer glitzernden Küste, ein Glastisch mit einer Kugelvase voller bunt schimmernder, ovaler Steine. Ich nehme einen heraus: Er schillert in allen Blautönen, vom ersten Morgenlicht bis in die tiefe Nacht. Ich stecke ihn ein, denn bestimmt hat sie ihn berührt. Silvias blaue Augen strafen mich mit einem
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