Weiß wie Milch, rot wie Blut - D'Avenia, A: Weiß wie Milch, rot wie Blut - Bianca come il latte, rossa come il sangue
retten und so tun, als müsste ich mir die Tennisschuhe zubinden; aus dem Augenwinkel sehe ich die Lehrerin vorbeihasten, die angestrengt in ihrer Tasche kramt und mich gar nicht bemerkt. Sie ist weg! Gerade will ich erleichtert aufatmen, da bemerke ich, dass ich mir die vermeintlich offenen Schnürsenkel in dem morgendlich dampfenden Scheißhaufen eines x-beliebigen Terminators zugebunden habe …
Ein Glückstag!
W e nn man die Schule schwänzt, fühlt man sich wie ein Dieb. Und wohin flüchtet sich ein Dieb nach einem Coup? In seinen Schlupfwinkel. Mein Schlupfwinkel ist die einsame rote Parkbank am Fluss – die aus meiner ersten Pennernacht – unter einem riesigen Baum mit tiefhängenden, knorrigen Zweigen, der aussieht wie ein Schirm mit zahllosen Streben.
Im Schutz dieses Schirmes habe ich auf der Bank unzählige tolle Mädchen erobert, die weltbewegendsten Probleme gelöst, mich in einen maskierten Superhelden verwandelt und Familienpackungen meiner Lieblingschips mit Räuchergeschmack in mich reingestopft. Die Zeit geht dort im Flug vorbei, schneller noch als der ruhig dahinfließende Fluss. Diese Bank birgt das Geheimnis der Zeit, sämtliche Träume werden dort wahr.
Und heute ist genau der richtige Tag, um sich im Schatten des Baumschirmes auf meiner Holzbank niederzulassen. Ich stelle den Rucksack an die Seite und strecke mich mit angewinkelten Beinen aus. Das Blau des Himmels ist von hellweiß dahinziehenden Wolken unterbrochen. Keine Regenwolken, sondern frische Meereswolken, die das Himmelblau noch leuchtender machen. Mein Blick schlüpft zwischen den Zweigen hindurch, nimmt die Farbe der ovalen Blätter in sich auf und erreicht den Himmel, an den das Inbild meines Glücks gemalt ist: Beatrice. Niemand schenkt dem Himmel einen Blick, es sei denn, man verliebt sich. Die Wolken färben sich rot und verwandeln sich in ihr Haar, das Tausende Kilometer über den Himmel wallt und die Welt in einen herrlich weichen, frischen Mantel hüllt.
Ich muss Beatrice retten, und wenn es das Letzte ist, was ich tue. Der Ort ist der richtige. Nur auf dieser Bank werden Träume wahr, und in der Stille des Parks schlafe ich ein wie ein glücklicher, mit Rotwein abgefüllter Penner. Mit genügend Zeit und der richtigen Parkbank wäre das Glück garantiert. Doch leider hat irgendjemand das Joch Schule erfunden.
E twas berührt mich am Bein und reißt mich aus dem Schlummer, und ich schrecke hoch, aus Angst, es könnte eine widerliche Heuschrecke sein, die vom Baum gefallen ist. Dabei war es nur das Handy. Nachricht: »Die Englischlehrerin hat gesagt, sie hat dich heute früh gesehen, aber du bist nicht im Unterricht. So wie’s aussieht, steckst du in der Scheiße. Giak.« Da freut sich die Drecksau. Ich stecke echt in der Scheiße! Ist es denn wirklich so schwierig, glücklich zu sein, und kaum will man ein Problem endgültig lösen, kommt jemand daher und hindert einen daran? Wieso hat Silvia mir nicht eine Nachricht geschrieben? Jetzt ist es eh zu spät.
Ich tippe eine SMS an niemanden, um einen klaren Kopf zu bekommen. Ich schreibe tausende SMS, die ich nicht losschicke, sie helfen mir beim Nachdenken. »Auf der Bank verpennt.« Wieder ist das T9 für eine Überraschung gut. Ehe ich das zweite »n« von »verpennt« eintippe, erscheint das Wort »versengt«. »Auf der Bank versengt.«
Von einem Moment zum anderen könnte sich die Parkbank in einen Scheiterhaufen verwandeln, angezündet von all den Leuten, die von meinen Ketzereien über das Leben die Nase voll haben, genau wie im Mittelalter. Sie würden mich an die hölzernen Latten dieser Bank binden, mich unter diesem herrlichen Himmel in Brand setzen und mich als Feigling, Angsthase, Lusche, Nichtsnutz und Drückeberger beschimpfen. Mein Traum würde in Rauch aufgehen. Und genau deshalb muss ich ihn beschützen. Ich muss ihn vor dem Scheiterhaufen meiner Eltern beschützen, vor den Lehrern, den Neidern, den Feinden. Das Holz dieser Parkbank ist heute sehr viel kostbarer als das vollgekritzelte Holz meiner Schulbank.
Ich habe die Schule nicht geschwänzt, weil ich ein Drückeberger bin, sondern weil es gerade ein dringenderes Problem gibt, nämlich das des Glücklichseins. Der Träumer hat das auch gesagt: »Die Liebe ist nicht dazu da, um uns glücklich zu machen, sondern um uns zu zeigen, wie viel Schmerz wir ertragen können.«
Und genau das werde ich meinen Eltern sagen, wenn sie mich auf den Scheiterhaufen der verdienten Strafe binden. Ich wollte nur
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