Weiß wie Milch, rot wie Blut - D'Avenia, A: Weiß wie Milch, rot wie Blut - Bianca come il latte, rossa come il sangue
ein Bergquell, versteckt, still und heiter.
»Ich möchte so vieles machen, aber ich kann nicht. Ich bin zu schwach und mache sofort schlapp. Ich hab davon geträumt, neue Sprachen zu lernen, auf Reisen zu gehen, ein Instrument zu spielen … Nichts. Ist alles zerplatzt. Und dann noch meine Haare … Es ist mir peinlich, so gesehen zu werden. Meine Mutter musste mich richtig überreden, euch reinzulassen. Sogar meine Haare habe ich verloren, das Schönste, was ich hatte. Ich hab all meine Träume verloren, genau wie meine Haare.«
Ich sehe sie an und weiß nicht, was ich sagen soll, in ihrer Gegenwart bin ich zu einem Wassertropfen geworden, der in der Augustsonne verdunstet, und meine nichtigen Worte sind leerer Atem, der sich in der Luft verliert. Also sage ich mit der peinlichen Verlässlichkeit einer Schulglocke:
»Sie werden wieder wachsen, genau wie deine Träume. Eines nach dem anderen.«
Sie lächelt müde, und ihre Lippen zittern.
»Das hoffe ich, das hoffe ich von ganzem Herzen, aber so, wie es aussieht, will mein Blut nicht gesund werden. Es fault vor sich hin.«
Eine Perle in Tränenform quillt aus Beatrices linkem Auge. Silvia streicht ihr über die Wange und wischt sacht die Träne weg, wie eine Schwester. Kurz darauf verlässt auch sie das Zimmer. Ich bleibe allein mit Beatrice, die erschöpft und besorgt wegen Silvias Reaktion die Augen schließt.
»Es tut mir leid. Manchmal drücke ich mich ein bisschen heftig aus.«
Beatrice macht sich wegen uns Sorgen, dabei sollte es genau umgekehrt sein. Ich bin allein mit ihr, jetzt muss ich ihr das Geheimnis ihrer Genesung verraten. Ich bin deine Genesung, Beatrice, und du meine. Erst, wenn wir beide das wissen und uns einig sind, ist uns alles möglich, für immer. Ich konzentriere mich, um ihr zu sagen, dass ich sie liebe, ich nehme innerlich Anlauf, als wäre mein Körper eine Laufbahn, aber ich knalle gegen eine Mauer. Ich liebe dich, ich liebe dich, ich liebe dich. Nicht mehr als drei kleine Worte, das schaffe ich. Beatrice sieht mich niedergeschlagen an.
»Man braucht vor Worten keine Angst zu haben. Das habe ich durch meine Krankheit gelernt. Man muss die Dinge beim Namen nennen, ohne Furcht.«
Deshalb will ich dir ja auch sagen, bin ich drauf und dran, dir zu sagen … herauszuschreien, dass ich dich liebe.
»Auch wenn das Wort Tod heißt. Worte machen mir keine Angst mehr, weil ich keine Angst mehr vor der Wahrheit habe. Wenn dein Leben auf dem Spiel steht, hast du keine Lust mehr auf Wortspielereien.«
Und genau deshalb muss ich ihr die Wahrheit sagen, jetzt gleich. Die Wahrheit, die ihr die Kraft gibt, gesund zu werden:
»Ich würde dir gern etwas sagen.«
Die Worte kommen mir über die Lippen, und ich habe keine Ahnung, wo sie herkommen und woher ich den Mut genommen habe, sie auszusprechen. Ich weiß nicht, wie viele Leos in mir stecken, früher oder später werde ich mich für einen entscheiden müssen. Oder vielleicht lasse ich Beatrice entscheiden, welcher ihr am besten gefällt.
»Schieß los.«
Eine Minute lang hocke ich schweigend da. Der Leo, der den Mumm hatte, den ersten Satz zu sagen, hat sich sofort verkrochen. Jetzt sollte er »ich liebe dich« sagen. Ich sehe ihn in einem dunklen Eckchen kauern, die Hände vorm Gesicht, als würde gleich etwas Entsetzliches passieren, und überrede ihn, den Mund aufzumachen. Los, Leo, komm da raus, wie der Löwe, der aus dem Unterholz tritt. Ich will dich brüllen hören!
Schweigen.
Beatrice wartet. Sie lächelt mich ermutigend an und legt mir die Hand auf den Arm.
»Was ist los?«
Ihre Berührung verwandelt sich in eine Flut aus Blut und Worten.
»Beatrice … ich … Beatrice … ich liebe dich.«
Auf meinem Gesicht liegt der gleiche Ausdruck wie bei einer mündlichen Mathe-Prüfung, wenn man sich zaghaft vortastet und hofft, der Lehrer gibt einem irgendwie zu verstehen, ob man richtig liegt oder nicht, damit man im Zweifelsfall so tun kann, als hätte man nichts gesagt. Beatrices schneeweiße, verletzliche Hand liegt wie ein Schmetterling auf der meinen, sie schließt einen Moment die Augen, atmet tief ein und öffnet sie wieder.
»Es ist schön, dass du das sagst, Leo, aber vielleicht hast du es noch nicht verstanden: Ich sterbe.«
Der Schwall messerscharfer Silben prasselt wie Speerspitzen auf mich ein und lässt mich nackt vor Beatrice stehen, nackt, verletzt und wehrlos.
»Das ist nicht fair.«
Es ist, als würde ich nach einer langen Nacht aufwachen und noch immer
Weitere Kostenlose Bücher