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Weiß wie Milch, rot wie Blut - D'Avenia, A: Weiß wie Milch, rot wie Blut - Bianca come il latte, rossa come il sangue

Weiß wie Milch, rot wie Blut - D'Avenia, A: Weiß wie Milch, rot wie Blut - Bianca come il latte, rossa come il sangue

Titel: Weiß wie Milch, rot wie Blut - D'Avenia, A: Weiß wie Milch, rot wie Blut - Bianca come il latte, rossa come il sangue Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alessandro D'Avenia
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eatrice. Ich besuche sie jede Woche. Immer an einem anderen Tag, je nachdem, wie es ihr geht, denn an manchen Nachmittagen ist sie zu müde. Ihr Zustand bessert sich nicht: Nach der letzten Transfusion ist er gleich bleibend. Wenn es ihr besser geht, schicken sie und ihre Mutter mir eine Nachricht, und sofort mache ich mich mit Öffentlichen auf den Weg (nach dem Unfall hat mein Moped leider den Geist aufgegeben, und ich glaube nicht, dass es wiedergeboren wird, und auch, wenn der Schaden von der Versicherung gedeckt ist, sieht der Strafkatalog vor, dass über die eventuelle Anschaffung eines neuen Fortbewegungsmittels nur nach erfolgreicher Versetzung gesprochen wird).
    Jedes Mal bringe ich etwas mit, um Beatrice abzulenken. Ich betrete ihr Zimmer mit dem Vorsatz, ihr ein Stück Paradies zu schenken (im übertragenen Sinne, versteht sich, denn ich glaube nicht ans Paradies), doch dann finde ich das Paradies dort bei ihr (also gibt es das Paradies vielleicht doch, denn etwas so Schönes kann nicht einfach enden). Einmal habe ich ihr eine CD mit Klavierstücken mitgebracht, die sie so gern mag.
    »Tanzt du mit mir?«
    Ihre Stimme ist nur ein Hauch. Ich kann es nicht glauben. Ich halte Beatrices zerbrechlich schwachen Körper und lasse ihn durch das helle Zimmer schweben wie eine Seifenblase, die im nächsten Moment platzen und sich in Luft auflösen könnte. Ihr Haar ist so weit nachgewachsen, dass man seinen Duft riechen kann. Ich drücke ihre Hand und ihr Leben: ein Kristallglas, das zu zerbersten droht, womöglich sogar wegen der roten Flüssigkeit, die ich hineingießen will.
    Der Drang, mit ihr zu schlafen, wie ich ihn früher beim Gedanken an sie verspürt habe, ist weit weg. Was nicht heißt, dass ich schwul geworden bin. Ihr Körper unter dem dünnen Kleiderstoff scheint ein Teil von mir zu sein, als wüsste unsere Haut nicht mehr, welche Knoch en und Muskeln sie bedecken soll. Ihr Gesicht, das an meinem Schlüsselbein ruht, ist das fehlende Puzzleteil in meinem zusammenhanglosen Leben, der Schlüssel zu allem, der Mittelpunkt. Ihre Beine folgen meinen Schritten, die sich nach der Choreographie des ersten Tanzes zwischen Mann und Frau bewegen. Mein Herz scheint überall zu schlagen, von den Zehen bis in die Haarspitzen, und mit der Kraft, die ich in mir spüre, könnte ich in diesem Zimmer die ganze Welt erschaffen.
    Doch Beatrice schafft nur ein paar Schritte, dann lässt sie sich in meine Arme sinken. Schwerelos, wie eine weiße Schneeflocke. Ich helfe ihr zurück ins Bett. Mache die Stereoanlage aus. Sie sieht mich dankbar an, ehe sie ermattet die Augen schließt, und durch diesen kurzen, erlöschenden Blick begreife ich, dass ich all das besitze, was sie verliert: Haare, Schule, Tanzen, Freunde, Familie, Liebe, Hoffnung, Zukunft, Leben … aber ich weiß nicht, was ich mit all diesen Dingen anfangen soll.

I ch kann mich auf dieses verdammte Mathebuch einfach nicht konzentrieren, und morgen schreiben wir eine Klassenarbeit. Immer wieder sehe ich Beatrices Blick vor mir, der entkräftet erlischt.
    Ich sehe ihn hinter den Zeilen,
    zwischen den Zeilen,
    im Weiß der Zeilen.
    Es ist, als hätten sich meine Sinne zurückgezogen und eine andere Form der Wahrnehmung entwickelt: Alles, was Beatrice verliert, lebe ich nicht nur für mich, sondern auch für sie. Ich muss es zweimal leben. Beatrice mag Mathe. Und ich will’s jetzt lernen und zwar richtig, denn selbst um diesen unverständlichen Mist tut es Beatrice leid …

B ei Beatrice bin ich immer jemand Neues: erst Gitarrenlehrer, jetzt Erdkundelehrer. Wer hätte das gedacht, ich, der für Erdkunde nie etwas übrig hatte und sich gerade mal merken konnte, welche Nationen Metall und Stahl verarbeitende Industrien sind (wobei mir der Unterschied bis heute nicht klar ist) und wo Zuckerrüben angebaut werden, wobei ich riesige Felder vor mir sehe, auf denen Zuckertütchen sprießen, wie sie in der Bar auf dem Tresen stehen.
    Bei jedem Besuch bringe ich Beatrice in eine neue Stadt. Beatrice träumt vom Reisen, und wenn sie wieder gesund ist, will sie eine Weltreise machen, Sprachen lernen, neue Länder entdecken. Englisch und Französisch kann sie schon, Portugiesisch, Spanisch und Russisch will sie noch lernen. Wieso eigentlich Russisch, das kann man doch gar nicht lesen … Griechisch reicht ihr wohl nicht?
    Sie meint, mit jeder neuen Sprache erweitert sich der Blick auf die Welt. Jede Sprache hat eine andere Perspektive. Die Eskimos zum Beispiel haben fünfzehn

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