Weiß wie Milch, rot wie Blut - D'Avenia, A: Weiß wie Milch, rot wie Blut - Bianca come il latte, rossa come il sangue
abgefragt wird.
Wir lernen bis spätabends. Es ist schon elf, als ihre Mutter schüchtern hereinkommt und fragt, ob wir etwas trinken wollen. Während wir ein Glas Cola trinken, das uns ein bisschen wach macht, schlägt Silvia vor, auf den Balkon zu gehen, um frische Luft zu schnappen. Die Milchstraße sieht aus, als hätte sie sich extra herausgeputzt. Ich fange an, Silvia ein paar Sternbilder zu zeigen. Ich wiederhole, was mein Vater mir beigebracht hat, und erfinde hier und da vielleicht ein bisschen was dazu … Ich deute auf die Sterne, die heute Abend sogar die Lichter der Stadt überstrahlen, und zeige ihr meine Lieblingskonstellationen: Perseus, Andromeda, Pegasus.
Während Silvia andächtig meinem Fingerzeig folgend zum Himmel aufsieht, ist mir, als würde ich den Himmel erschaffen, und ich erzähle ihr von Perseus, der Medusa besiegt, vom Blick, der versteinert, vom Blut, aus dem weiß wie Meerschaum das geflügelte Ross entspringt: Pegasus, der noch immer die Milchstraße entlangsegelt. Er trifft auf die an einen Felsen gekettete Andromeda, die darauf wartet, von einem Meeresungeheuer verschlungen zu werden, und befreit sie. Er rettet sie vor dem Ungeheuer.
»Mein Vater hat mir klargemacht, dass der Himmel alles andre als flach ist. Ich hab den immer wie einen Fernsehbildschirm gesehen, auf dem völlig willkürlich irgendwelche farbigen Punkte flimmern. Doch wenn man genau hinsieht, gleicht der Himmel dem Meer: Er ist tief, man kann die Entfernungen zwischen den Sternen regelrecht erahnen und bekommt Angst vor der eigenen Winzigkeit. Und diese angstvolle Tiefe füllt man mit Geschichten. Weißt du, Silvia, ich hab’s auch nicht geglaubt, aber der Himmel ist voller Geschichten. Früher habe ich die nicht gesehen, aber heute lese ich sie wie ein Buch. Mein Vater hat mir beigebracht, diese Geschichten zu sehen, die sich dem Blick entziehen, sich verstecken und unsichtbaren Handlungssträngen gleich von Stern zu Stern hangeln …«
Silvia hört mir zu und betrachtet die flimmernden Punkte auf dem einförmigen Grund, der Geruch der Stadt verflüchtigt sich in ihrer Gegenwart, und selbst die Straßen erscheinen wie von Duft erfüllt. Silvia trägt den Frieden im Herzen. Sie lächelt.
»Die Menschen sind ein bisschen so wie die Sterne: Sie mögen weit weg sein, aber sie leuchten dennoch und haben immer etwas Interessantes zu erzählen … doch es braucht Zeit, sehr viel Zeit, bis ihre Geschichten unser Herz erreichen, es ist wie mit dem Licht. Und dann muss man die Geschichten auch erzählen können. Du kannst es, Leo, du bist voller Leidenschaft. Vielleicht wirst du mal Astrophysiker oder Schriftsteller …«
»Astro-was? Nein, die Zukunft vorherzusagen, ist nicht mein Ding …«
»Du bist vielleicht blöd! Astrophysiker erforschen den Himmel, Sterne, Umlaufbahnen.«
»Tja, wer weiß … klingt ganz gut. Aber da muss man so viel Mathe lernen. Auch wenn die Milchstraße eine der wenigen weißen Dinge ist, die mir keine Angst machen.«
»Und wieso?«
»Vielleicht, weil dieses Weiß in Wirklichkeit aus zahllosen kleinen Lichtpunkten besteht, die miteinander verbunden sind, und in jeder dieser Verbindungen steckt eine Geschichte …«
»Stimmt … nur schöne Geschichten verdienen ein Sternbild …«
»Du hast recht. Sieh dir Perseus an, der Andromeda befreit, und Pegasus, der weiß und frei davonfliegt …«
»Man braucht ein bisschen Fantasie, aber dann …«
Silvias Worte schweben in der klaren Luft zu den Sternen empor, und fast scheint es, als könnten sie uns hören.
»Ich will Beatrice von diesem Ungeheuer befreien, wie Perseus«, sage ich, »und auf einem geflügelten Ross davonreiten.«
»Das wäre schön …«
»Glaubst du, ich könnte Schriftsteller werden?«
»Erzähl mir eine Geschichte …«
Ich schweige. Fixiere einen Stern, der röter strahlt als die anderen.
»Es war einmal ein Stern, ein junger Stern. Wie alle jungen Sterne war er klein und weiß wie Milch. Er wirkte fast zerbrechlich, doch das lag nur an seinem strahlenden Licht, das ihn fast durchsichtig erscheinen ließ. Er wurde Weißer Zwerg getauft, weil er klein war und weiß wie Milch: Weißer Zwerg, kurz: Zwerg. Er liebte es, über den Himmel zu ziehen und andere Sterne kennenzulernen. Mit der Zeit wuchs Zwerg heran und wurde groß und rot. Er war kein Zwerg mehr, sondern ein Riese, ein Roter Riese. Alle Sterne beneideten ihn um seine Schönheit und seine roten Strahlen, die ihn umgaben wie endlos langes Haar. Doch
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