Weiß wie Milch, rot wie Blut - D'Avenia, A: Weiß wie Milch, rot wie Blut - Bianca come il latte, rossa come il sangue
sein eigentliches Geheimnis lag darin, im Innersten Zwerg zu bleiben. Klar, hell und rein wie der Zwerg, auch wenn er riesig und rot aussah. Deshalb strahlt Roter Zwerg noch immer, mal weiß mal rot, denn er ist beides zugleich. Und es gibt nichts Schöneres im Himmel. Und auf Erden.«
Ich verstumme. Meine Geschichte ist gar keine. Aber es ist das, was mein leuchtender Stern mir eingegeben hat. Ich zeige auf ihn.
»Diesen Stern widme ich dir, Silvia.«
Ein rotweißes Lächeln bringt Silvias Gesicht zum Leuchten, als wäre es ein Spiegel, der das Funkeln ihres Sterns über Abermillionen Lichtjahre hinweg einfängt.
Sie legt den Kopf auf meine Schulter und schließt die Augen. Schweigend sehe ich zu Perseus, Andromeda und Pegasus auf. Der Himmel hat sich in eine riesige, dunkle Kinoleinwand verwandelt, bereit für jeden Film, den wir uns wünschen, derweil sich etwas Kleines, Leuchtendes lautlos in einem Winkel meines Herzens einnistet, wie ein Sandkorn, das in die Auster schlüpft, um zur Perle zu werden.
»Ich hab dich lieb«, sagen Silvias Augen.
Und meine antworten, »Ich dich auch«.
D ie Italienischlehrerin fragt mich ab und will wissen, wieso ich erst jetzt mit dem Lernen angefangen habe. Ich sehe zu Silvia hinüber, die unmerklich den Kopf schüttelt, und verkneife mir, was ich gerade sagen wollte, dabei weiß ich genau, wem ich das zu verdanken habe. Nur eine Sache ist bei der Prüfung schlecht gelaufen: Ich kann den Konjunktiv nicht anwenden.
»Wieso verhaust du eigentlich jeden Konjunktiv, Leo? Man könnte fast meinen, du machst das extra. Sogar bei den simpelsten Sätzen liegst du daneben …«
Auch diesmal sage ich nichts und verfluche den Tag, an dem ich beschlossen hatte, auf den Konjunktiv zu verzichten, um in meiner Clique, mit der ich in der Achten abhing und in der niemand den Konjunktiv benutzte, für voll genommen zu werden. Um zur Clique zu gehören, kann man auf den Konjunktiv verzichten, aber um Italienisch zu sprechen, nicht. Also kriege ich ein »Befriedigend« statt ein »Gut«.
Ab morgen hämmere ich mir Konjunktivsätze ein, ob ich will oder nicht. Ich finde den Konjunktiv cool, auch wenn ich jeden geschriebenen Satz von mir werde verbessern müssen. Wenn ich Schriftsteller werden will, muss ich den Konjunktiv lernen. Klar kann man auch ohne leben, aber mit lebt man besser: Das Leben wird um einige Nuancen und Möglichkeiten reicher. Und ich habe nur dieses eine.
I ch gehe Beatrice besuchen, sie schreibt gerade Tagebuch. Genau wie Silvia. Sie empfängt mich mit einem Lächeln und bittet mich, ihr beim Schreiben zu helfen. Keiner darf ihr Tagebuch lesen, aber bei mir würde sie eine Ausnahme machen, wenn ich für sie schriebe.
»Wenn du mir schreiben hilfst, darfst du’s lesen«, sagt sie, und ich habe das Gefühl, als beträte ich einen Raum, der alle Geheimnisse der Welt enthält.
Der Einband ist rot, die Seiten weiß. Weiß, ohne Linien. Das Schlimmste, was mir passieren konnte …
»Beatrice, ich kann nicht auf unliniertem Papier schreiben. Ich ruiniere dir das ganze Buch.«
Ich starre auf Beatrices makelloses Schriftbild. Oben rechts das Datum und dann ihre Gedanken, festgehalten in zarter, eleganter, zurückhaltender Handschrift. Sie sieht aus wie ein weißes Kleid an einem windigen Frühlingstag. Ich lese den Absatz, den sie gerade schreibt: »Lieber Gott …« Wie, »Lieber Gott …«?! Ja: »Lieber Gott …« Beatrice schreibt Briefe an Gott. Ihr ganzes Tagebuch besteht aus kurzen Briefen an Gott, in denen sie ihm ihre täglichen Erlebnisse erzählt und Ängste, Freuden, Traurigkeiten und Hoffnungen anvertraut. Auf ihre Bitte lese ich den letzten Teil des heutigen Briefes vor, damit sie weiß, wo sie stehengeblieben ist.
»… Heute bin ich echt müde. Ich kann Dir kaum schreiben. Dabei hätte ich Dir so viele Dinge zu sagen, aber es tröstet mich, dass Du sie eh schon weißt. Trotzdem finde ich es schön, mit Dir darüber zu reden, es hilft mir, klarer zu sehen. Ich frage mich, ob ich im Himmel wieder meine roten Haare habe … wenn Du mir rotes Haar geschenkt hast, dann bestimmt, weil Du es schön fandest, schön und lebendig. Also kriege ich sie vielleicht zurück.«
Beim Lesen bricht mir fast die Stimme, aber ich reiße mich zusammen.
»So, jetzt schreibst du weiter: Heute fiel mir das Schreiben wirklich schwer, die Hand tat mir weh. Zum Glück hast Du mir Leo geschickt, einen meiner Schutzengel …«
Ich habe mich nie als Beschützer gesehen und erst recht
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